Patienten als transformative Kraft in der Psychiatrie

Patienten als transformative Kraft in der Psychiatrie

Editorial
Issue
2024/01
DOI:
https://doi.org/10.4414/sanp.2024.1345567236
Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2024;175(01):1

Published on 14.12.2023

In der Psychiatrie gab es in den letzten Jahrzehnten beeindruckende wissenschaftliche Fortschritte, vor allem durch die Neurowissenschaften. Deren Dokumentation ist auch eines der Hauptanliegen einer wissenschaftlichen Zeitschrift wie des SANP. Viele dieser Erkenntnisse haben bisher jedoch nicht zwangsläufig zu neuen Behandlungsansätzen geführt. Andererseits haben aber Erkenntnisse aus der Sozialpsychiatrie immerhin den Weg für eine menschenwürdigere und zudem effizientere Betreuung der besonders stigmatisierten und diskriminierten psychiatrischen Patienten aufgezeigt.
Trotz Fortschritten hin zu einer gemeindenahen Psychiatrie, verläuft auch in der Schweiz die Reform in den letzten 20 Jahren eher zögerlich. Ursächlich für diesen Reformstau mögen auch äussere Umstände und  Herausforderungen wie gesellschaftliche Stigmatisierung, die Kluft zwischen steigendem Bedarf an psychischer Gesundheitsversorgung und begrenzten Ressourcen, Fachkräftemangel und fehlgeleitete finanzielle Anreize sein. So stützen sich Institutionen zur Abrechnungsoptimierung etwa weiterhin auf das spitalzentrierte Modell. Allerdings existieren auch innerhalb der Psychiatrie genügend hemmende Faktoren. Die Psychiatrie zeigt träge Anpassung an Neues, verhaftet in Traditionen und bewährten Methoden. Diese Viskosität zeigt sich in der Priorisierung von Sicherheit über Patientenautonomie, wirtschaftlicher Effizienz über soziale Verantwortung sowie in Partikularinteressen und finanziellen Interessenkonflikten der Entscheidungsträger.
Sicherlich ein wesentliches Hindernis für die Psychiatriereform in Richtung gemeindenaher Versorgung ist der weitere Ausbau stationärer Angebote. Dies wird oft damit begründet, dass Neubauten eine «menschenwürdigere» Unterbringung ermöglichen. Auf den ersten Blick positiv, übergeht diese Argumentation jedoch die grundlegenden Bedürfnisse der Patienten und die besten Ansätze zu ihrer Erfüllung. In Frage steht, ob die Entwicklung tatsächlich von den besten Stakeholdern gesteuert wird. Eine bedarfsgerechte Reform, die die Perspektiven und Erfahrungen der Betroffenen berücksichtigt, erscheint immer deutlicher nur mit ihrer verstärkten Einbindung möglich.
First Person Accounts, so auch der in der vorliegenden Ausgabe publizierte, ermöglichen Menschen mit psychischen Gesundheitsproblemen, ihre Stimme zu erheben und persönliche Erfahrungen zu teilen. Dies stärkt ihr Empowerment, da sie als Experten in eigener Sache anerkannt werden. Solche Berichte verbessern das Verständnis für spezielle Bedürfnisse und Herausforderungen im natürlichen Umfeld der Patienten und inspirieren andere Patienten sowie Fachpersonen. Insbesondere sollte aber auch die Beteiligung von Patienten auf allen Ebenen der Entscheidungsfindung gefördert werden. In der Psychiatrie sind Betroffene immer noch zu stark von entscheidenden strategischen Prozessen ausgeschlossen. Die nachhaltige Entwicklung erfordert eine teilweise Übertragung von Strategie- und Planungsbefugnissen an Patienten(-vertreter). Es reicht nicht mehr aus, die Patientensicht nur zu berücksichtigen; sie müssen aktiv an allen Entscheidungsprozessen teilnehmen.
Seien wir ohne weiteres ein bisschen utopisch: Entscheidungsmächtige Patienten könnten schliesslich zu transformativen Kräften zur Überwindung von Reformwiderständen werden. Die (teilweise) Übertragung von Strategie- und Planungsbefugnissen an Patienten ist zwar anspruchsvoll, aber notwendig. Die Perspektive der Patienten ist besonders dann wertvoll, wenn sie mehrere Organisationen betrifft, um Pflegeübergänge und Koordination zu verbessern. Eine verstärkte Einbeziehung der Patienten in die Governance ist hierfür entscheidend.
Das SANP sieht sich hierbei in der Verantwortung, die Diskussion um die Zukunft der Psychiatrie in diesem Sinne voranzutreiben.
Daniele Zullino Editor-in-Chief