Evaluation der Bestimmungen zur fürsorgerischen Unterbringung in der Schweiz
Handlungsfelder und Empfehlungen
Peer-review

Evaluation der Bestimmungen zur fürsorgerischen Unterbringung in der Schweiz

Original Article
Issue
2024/04
DOI:
https://doi.org/10.4414/sanp.2024.1326245541
Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2024;175:1326245541

Affiliations
a Psychiatrie Baselland, Liestal
b Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Forschungsgruppe Mental Health Care and Service Research, Zürich
c socialdesign, Bern

Published on 10.04.2024

Abstract

Aims: The presented article summarizes the topics and recommendations of a large-scale mixed-methods study on behalf of the Swiss Federal Office of Justice. The mandate was to evaluate the implementation of involuntary admission (Fürsorgerische Unterbringung, FU) and coercion as well as measures to promote patients’ autonomy in Switzerland to assess a possible need for revision of the legal articles on the regulation of coercion.
Methods: The evaluation is based on a multi-perspective and multi-method survey and analysis method. Multiple stakeholder perspectives were taken into account and several methods (quantitative and qualitative) were used to account for the complex subject matter. Data collection took place in 2021.
Results: In principle, the evaluation results indicate that the legal reform was largely able to implement the intended changes. Nevertheless, there is a need for a legislative adaptation of the provisions on FU and other coercive measures.
Conclusions: The recommendations derived from the study can be grouped into six fields of action. 1. Persistent heterogeneity in the implementation of FU and other coercive measures. 2. Information on FU and right of appeal and relevance of incapacity of judgement. 3. FU issued by physicians vs civil authorities. 4. Appropriate facility, diversified treatment and care services and their financing. 5. Institution-specific management of FU and coercion. 6. Aids to promote self-determination.
Keywords: Coercion; ethics; health policy; law; prevention

Einleitung

Die Schweiz blickt auf eine mindestens hundertjährige, restriktive Fürsorgepolitik zurück. «Arbeitsscheue», «lasterhafter Lebenswandel», «Liederlichkeit», «Geistesschwäche», «Geisteskrankheit» wurden mit Verweis auf kantonale Gesetzgebungen als Begründungen herangezogen, um Personen ohne ihre Zustimmung in bestimmten Einrichtungen unterzubringen [1]. In den letzten Jahren wurde im Rahmen intensiver gesellschaftlicher Debatten und politischer Aufarbeitungsprozesse die Nachvollziehbarkeit der Gründe und die Eignung der Einrichtungen kritisch reflektiert. Der Aufarbeitungsprozess ist bis heute nicht abgeschlossen, mehrere gross angelegte Studien und Förderungsprogramme des Schweizerischen Nationalfonds beschäftigen sich mit der Thematik. Im Jahr 1981 wurden die Rahmenbedingungen für die fürsorgerische Freiheitsentziehung (FFE) im schweizerischen Zivilgesetzbuch (ZGB) erstmals bundesweit einheitlich geregelt. Die Umsetzung des Vollzugs der darauf basierenden Unterbringung von Personen in Einrichtungen wurde weiterhin den Kantonen überlassen. Die folgende Revision dieser Gesetzgebung auf Bundesebene fand im Jahr 2013 mit der Einführung des neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrechts (KESR) statt. Die dazugehörigen Artikel im ZGB intendieren unter anderem die Förderung der Selbstbestimmung, einen besseren Schutz von urteilsunfähigen Personen in Wohn- und Pflegeeinrichtungen, eine individualisierte und passgenaue Anwendung behördlicher Massnahmen sowie die Verbesserung des Rechtsschutzes bei der fürsorgerischen Unterbringung (FU). Dazu wurden Instrumente zur Förderung der Selbstbestimmung eingeführt, insbesondere das Recht auf Benennung einer Vertrauensperson und eine erhöhte Verbindlichkeit von Patientenverfügungen (jedoch unter FU-Bedingungen eingeschränkt). Die Möglichkeiten des Beschwerderechts wurden klarer definiert. Die ehemaligen, mehrheitlich mit Laien besetzten Vormundschaftsbehörden wurden durch die professionalisierten Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) ersetzt, um damit auch einen einheitlicheren, praktischen Umgang mit der FU zu erreichen.
Seit Einführung des KESR wurde die Umsetzung der neuen Regelungen mit Blick auf die Erreichung der beabsichtigten Ziele kritisch beobachtet. In den letzten Jahren wurden zur FU bisher acht parlamentarische Vorstösse eingereicht. In seiner Stellungnahme zu den Motionen 18.3653 und 18.3654 hielt der Bundesrat exemplarisch fest, dass massgebliche Verbesserungen durch die Einführung des KESR erreicht wurden, jedoch weiterhin wesentliche Kritikpunkte hinsichtlich der kantonalen Umsetzung bestehen. Daher sollte die Umsetzung der gesetzlichen Bestimmungen zur FU (Art. 426 ff. ZGB) in den Kantonen umfassend evaluiert werden. Zu diesem Zweck schrieb das Bundesamt für Justiz (BJ) eine externe Evaluation aus, mit der die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Artikels beauftrag wurden. Der Auftrag lautete, die verschiedenen Auslegungen und Umsetzungen der gesetzlichen Bestimmungen zur FU und weiterer Zwangsmassnahmen bei Erwachsenen darzustellen und damit Entscheidungsgrundlagen zuhanden des BJ zu erarbeiten, durch die der Bedarf für eine Gesetzesrevision abgeschätzt werden könne. Die Fragestellung bezog sich auf Diskrepanzen in der Praxis der FU und damit verbundener Prozesse zwischen den Kantonen. Die besonders kritischen Aspekte der Umsetzung sollten mit hohem Praxisbezug aus der Perspektive verschiedener Stakeholdergruppen evaluiert werden.
Der vorliegende Artikel basiert auf dem Schlussbericht der Evaluation und fasst die identifizierten Handlungsfelder und Empfehlungen zusammen [2]. Diese wurden von den Autorinnen und Autoren aus der bestehenden nationalen und internationalen Literatur sowie den Evaluationsergebnissen abgeleitet, die im Bericht einsehbar sind und hier nicht im Detail dargestellt werden. Die Handlungsfelder und Empfehlungen wurden zudem durch ein externes Expertengremium geprüft (vgl. Schlussbericht [2]).

Methodik

Das unabhängige Evaluationsteam schlug zur Beantwortung der Fragestellung ein mehrstufiges Vorgehen mit drei Teilprojekten vor. Zunächst wurden fünf Kantone (BL, GR, TI, VD, ZH) ausgewählt, die sich bezüglich geographischer Aspekte sowie der Versorgungsorganisation und kantonaler Abläufe bei der Umsetzung der FU unterscheiden und die Sprachregionen der Schweiz repräsentieren. Im Teilprojekt 1 wurden die soziodemographischen und klinischen Basisdaten der jeweils grössten psychiatrischen Klinik der fünf Kantone ausgewertet und verglichen. Im Teilprojekt 2 wurden mehrere (Stakeholder-)Perspektiven auf die einzelnen Aspekte der FU anhand eines Fragebogens mit quantitativen und qualitativen Fragen zusammengetragen [3]. Hierzu wurde eine Gelegenheitsstichprobe (Rücklaufquote nicht eruierbar) von Patientinnen und Patienten, Angehörigen, Fachpersonen in den Kliniken, Zuweisenden, Mitarbeitenden der KESB und der kantonalen Gerichte aus den fünf Kantonen sowie Personen aus verschiedenen nationalen Verbänden (z.B. Pro Mente Sana) befragt. Im Teilprojekt 3 wurden einzelne Personen aus verschiedenen Stakeholdergruppen anhand von fünf konkreten prototypischen Fallvignetten qualitativ zu den einzelnen Aspekten der FU befragt. Die Datenerhebung fand zwischen April 2021 und November 2021 statt. Die Datenauswertung und die Interpretation der Ergebnisse erfolgte interprofessionell (Medizin, Psychologie, Rechtswissenschaft, Sozialarbeit) und diskursiv. Die Ableitung der Empfehlungen zuhanden des BJ wurde durch eine interprofessionell zusammengesetzte Begleitgruppe unterstützt und reflektiert.

Resultate – Handlungsfelder und Empfehlungen

Aus den Evaluationsergebnissen kann abgeleitet werden, dass einige der durch die gesetzliche Reform angestrebten Änderungen umgesetzt werden konnten. Anpassungsbedarf der Bestimmungen zur FU und der damit verbundenen Massnahmen besteht in einigen Themenfeldern, die im Folgenden dargestellt werden. Die Empfehlungen erfordern teilweise substanzielle Anpassungen der gesetzlichen Regelung zur weiteren Stärkung der Autonomie von Betroffenen und zur Qualitätsverbesserung im Umgang mit FU und weiteren Massnahmen durch die involvierten Fachpersonen. Folgende Handlungsfelder und Empfehlungen wurden von den Autorinnen und Autoren in Abstimmung mit der Begleitgruppe abgeleitet. Die Empfehlungen entsprechen teilweise wörtlich den Formulierungen aus dem durch das BJ publizierten Schlussbericht, allenfalls mit leichten sprachlichen Präzisierungen [2]. Diese Passagen sind entsprechend als Zitate gekennzeichnet.
1. Anhaltende Heterogenität bei der Umsetzung der FU und weiterer Zwangsmassnahmen
Die Revision des KESR hatte die Absicht zur Vereinheitlichung der Verfahrensbestimmungen hinsichtlich der FU sowie der weiteren Zwangsmassnahmen. Dennoch finden sich nach wie vor ausgeprägte kantonsspezifische Unterschiede in der Umsetzung. Die Förderung einheitlicher Vorgehensweisen bei der Anordnung, der Anwendung und der Aufsicht würde zu einer Stärkung einer national einheitlichen Rechtsgleichheit, einer grösseren Transparenz sowie einem reduzierten Empfinden von Willkürlichkeit beitragen. «Eine FU geht mit einem Verlust von Autonomie einher und stellt für die Betroffenen und deren Umfeld eine erhebliche emotionale und körperliche Belastung dar. Daher kommt einer autonomiewahrenden, qualitätssichernden Umsetzung eine besondere Bedeutung zu. Vor diesem Hintergrund ergeben sich folgende Empfehlungen mit Blick auf den Schutz der Freiheitsrechte und der Fürsorgepflicht» [2, S. 8]:
  • «Systematische Sammlung von Daten in Form einer nationalen Statistik, insbesondere zu a) FU, b) Massnahmen zur Bewegungseinschränkung und c) Behandlungen ohne Zustimmung. Die systematische Datensammlung sollte für Spitäler, psychiatrische Kliniken, Pflege- und Wohneinrichtungen einheitlich gelten und definierte Variablen umfassen» [2, S. 8]. Speziell ausgebildete Fachpersonen sollten mit der Erfassung und Analyse der Daten beauftragt werden und dadurch systematisch zur Qualitätssteigerung beitragen [4]. Eine Schnittstelle dieser kantonsübergreifenden Instanz mit den jeweiligen kantonalen Aufsichtsorganen sollte zudem definiert werden.
  • «Schaffung einer vereinheitlichten Regelung der Aufsichtspflicht in Form einer regelmässigen aktiven Kontrolle über die Umsetzung der FU bezogen auf KESB, Kliniken, Pflegeheime etc.» [2, S. 8]. Dadurch soll die anhaltende Heterogenität bei der Umsetzung der FU und weiterer Zwangsmassnahmen reduziert und eine einheitliche Umsetzung des KESR gesichert werden.
  • Einführung einer kantonalen Berichterstattung, möglichst gebündelt auf Bundesebene, in Form von öffentlich zugänglichen Jahresberichten über FU, Massnahmen zur Bewegungseinschränkung und Behandlungen ohne Zustimmung mit den Ergebnissen und daraus resultierenden Empfehlungen.
  • «Prüfung der Einführung einer Meldepflicht von Zwangsmassnahmen an die jeweils zuständige KESB» [2, S. 8].
2. Bedeutung der Information zu FU und Beschwerderecht sowie der Urteilsfähigkeit
In zwei der untersuchten Themen finden sich deutliche Unterschiede bei der Beurteilung von Betroffenen/Angehörigen und Professionellen (Gerichte, KESB, Medizin). Zum einen wird die Gewichtung der Information zur FU, deren Alternativen und Beschwerdemöglichkeiten und zum anderen die Relevanz der Urteilsfähigkeit bei der Prüfung einer FU-Anordnung kontrovers kommentiert und unterschiedlich gewichtet [2]. «Vor dem Hintergrund, dass das revidierte KESR den Anspruch hat, die Selbstbestimmung und Autonomie der Betroffenen zu stärken, sind diese Differenzen umso gewichtiger. Vor diesem Hintergrund ergeben sich folgende Empfehlungen» [2, S. 8]:
  • Stärkerer Einbezug der Betroffenenperspektive in die Umsetzung der FU, Massnahmen zur Bewegungseinschränkung und Behandlungen ohne Zustimmung. Der Gestaltungsraum ist gross und sollte auf mehreren Ebenen genutzt werden (z.B. Einbezug von «Peers», Mitsprachemöglichkeit bei Überarbeitungen der Vorgaben, Vorgehensweisen, Umsetzungen, Förderung der Erstellung von Patientenverfügungen).
  • «Nachdrückliche Förderung der Information der Betroffenen, deren Angehörigen und Vertrauenspersonen über Grund und Zweck der FU, Beschwerdemöglichkeiten und Alternativen zur FU» [2, S. 8], auch ausserhalb von Notfallsituationen.
  • Verstärkte Wahrung der Autonomie beziehungsweise der persönlichen Freiheit der Betroffenen durch die obligatorische Überprüfung der Urteilsfähigkeit [5] vor einer FU-Anordnung. Die spezifische Urteilsunfähigkeit sollte verbindlich als Voraussetzung für die Anordnung einer FU definiert werden, vergleichbar der Urteilsunfähigkeit als Voraussetzung für eine Behandlung ohne Zustimmung (Art. 434 ZGB).
  • «Abschaffung des Sonderrechts für psychisch kranke Menschen. D.h. die Rechte und Pflichten der Patientinnen sollen diagnoseunabhängig definiert werden (z.B. bei einer kardiologischen Diagnose und einer psychiatrischen Diagnose). Zentrales Kriterium für die Feststellung eines Schwächezustandes als eine der Voraussetzungen für die Anwendung von Massnahmen ohne Einverständnis bzw. gegen den Willen sollte die explizit durch Prüfung festgestellte Urteilsunfähigkeit sein [6]. Zudem sollte die Erstellung und Verbindlichkeit einer Patientenverfügung für alle Patienten unabhängig von der Diagnose gleich definiert sein. Dies würde die Gleichstellung und Gleichbehandlung von allen Patientinnen erlauben» [2, S. 9], unabhängig von der jeweiligen medizinischen Problematik.
3. Behördliche und ärztliche FU-Anordnungen
In der Praxis werden 80% der FU ärztlich angeordnet, davon ca. 20% durch Fachärztinnen für Psychiatrie und Psychotherapie [2]. «Somit wird der im KESR ermöglichte Spielraum (Art. 428 und 429) genutzt, der neben der KESB auch Ärzte ermächtigt, FU anzuordnen. Die gesetzlich vorgesehene Anordnung einer FU durch die KESB wird somit schweizweit selten vollzogen. Dies, obwohl sie der Gesetzgeber als mit der kantonalrechtlich anzuordnenden Kompetenz der Ärzteschaft explizit gleichgeordnet erachtet. Die alleinige Anordnungskompetenz der KESB wird von 98% der KESB-Mitglieder und von 60% aller anderen Stakeholder abgelehnt (Klinikpersonal, Gerichte, Zuweisende). Vor diesem Hintergrund ergeben sich folgende Empfehlungen» [2, S. 9]:
  • Studienergebnisse legen nahe, dass Qualitätsunterschiede in den FU-Anordnungen auch auf unterschiedliche Qualifikationen und Erfahrungen der FU-anordnenden beziehungsweise beantragenden Personen zurück zu führen sind [7, 8]. Die Einschätzung der psychischen Störung, gute Kenntnisse über die gesetzlichen Voraussetzungen (KESR und kantonsspezifische Einführungsgesetze) sowie zu kantonalen Versorgungsstrukturen, welche Alternativen zur FU darstellen können, sind wichtige Qualitätskriterien. Eine restriktive Handhabung der Zuständigkeiten, beziehungsweise Eine obligatorische Zertifizierung der mit der Anordnung der FU befugten Personen, könnte zu einer einheitlicheren Wahrung der Freiheitsrechte führen, ohne den Fürsorgebedarf zu vernachlässigen. Die Definition eines Mindeststandards an Kenntnissen und Kompetenzen für die Anordnung einer FU könnte Handlungskompetenz fördern [9–11].
  • «Neben der inhaltlichen Expertise muss die Gefahr der Befangenheit der anordnenden Ärztinnen berücksichtigt werden» [2, S. 9]. Gerade unter Zeitdruck, bei Drängen involvierter Personen (beispielsweise Vorgesetzte, Angehörige oder Polizei) für eine bestimmte Entscheidung und bei eingeschränkter Informationsverfügbarkeit, stellt die kritische Prüfung der der Voraussetzungen und Handlungsmöglichkeiten eine besondere Herausforderung dar. Dies gilt umso mehr, wenn es sich um die Einschätzung einer Fachperson derselben Institution handelt (zu welcher gegebenenfalls noch ein Abhängigkeitsverhältnis besteht). «Das Recht der Betroffenen auf eine Beurteilung durch eine unabhängige Zweitinstanz bzw. sachverständige Person muss gewährleistet werden» [2, S. 9].
  • «Das Problem der Übernahme hoheitlicher Aufgaben durch die Ärzteschaft (Doppelrolle) könnte durch eine frühzeitige und regelhafte juristische Überprüfung der Rechtmässigkeit einer FU (auch ohne Beschwerde der betroffenen Person) durch eine Behörde (KESB oder Gericht) oder dem Rechtsdienst des Kantons oder der aufnehmenden Institution reduziert werden. Die Eingrenzung der verliehenen hoheitlichen Befugnisse für Ärzte ist zu empfehlen» [2, S. 9].
  • Spezifische Informationsvermittlung mittels Publikationen und Fortbildungsveranstaltungen können für die mit bestimmten gesellschaftlichen Erwartungen einhergehende Gefahr einer Instrumentalisierung der Psychiatrie sensibilisieren. Dies betrifft die häufig anzutreffende Erwartung, dass die Psychiatrie nebst ihrem medizinisch definierten Behandlungsauftrag auch einen indirekten Fremdschutz- beziehungsweise Ordnungsauftrag wahrnehmen solle.
4. «Geeignete Einrichtung», diversifizierte Behandlungs- und Betreuungsangebote sowie deren Finanzierung
Die Kapazitäten für die Behandlung und Betreuung von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen variieren kantonsspezifisch [2]. Unter Berücksichtigung der Maxime der gemeindenahen Behandlung und Betreuung und der Vorgabe der «am wenigsten einschneidenden Massnahme» besteht Handlungsbedarf bezüglich Kantonsspezifischer, diversifizierter Betreuungsangebote und deren Finanzierung (zum Beispiel Ausbau von stationsersetzenden Hilfsangeboten, mobilen Krisenequipen, niederschwellig zugänglichen Wohnmöglichkeiten und flexiblen Unterstützungsangeboten etc.).
Bisher existiert «keine einheitliche Definition für die «geeignete Einrichtung», v.a. in Situationen, in denen die Betreuung und nicht die Behandlung (durch KVG finanziert) im Vordergrund steht» [2, S. 9]. An dieser Schnittstelle entstehen in der Praxis sehr häufig Spannungsfelder [2]. «Beispielsweise, wenn eine FU in einer psychiatrischen Klinik ohne Behandlungsauftrag erfolgt, die Behandlung von der betroffenen Person abgelehnt wird und die Voraussetzungen für eine Behandlung ohne Zustimmung nicht gegeben sind oder der Schwächezustand nicht auf eine psychische Störung zurückzuführen ist (z.B. bei geistiger Behinderung, schwerer Verwahrlosung). Mangels Alternativen erfolgt die FU oftmals in eine psychiatrische Klinik, ohne dass dort passende Rahmenbedingungen vorhanden sind. Eskalationen und daraus folgende Zwangsmassnahmen können die Folge sein. Vor diesem Hintergrund ergeben sich folgende Empfehlungen» [2, S. 9–10]:
  • «Einheitliche Definition der Kriterien für eine «geeignete Einrichtung» unter Einbezug der involvierten Disziplinen.
  • Schaffung eines diversifizierten Angebotes geeigneter Einrichtungen für die Umsetzung der FU, welches in Ergänzung zu psychiatrischen Kliniken für die Behandlung psychischer Störungen auch Einrichtungen zur Betreuung von Menschen ohne akute psychiatrische Behandlungsbedürftigkeit berücksichtigt.
  • Sicherstellung, dass Behandlungsangebote, die im präventiven Sinn einer Klinik vorgeschaltet werden können (z.B. klinikäquivalente aufsuchende Behandlungen im häuslichen Umfeld, Hometreatment, Tageskliniken, ambulante interprofessionelle Komplexbehandlungen etc.), vor einer FU-Anordnung geprüft werden» [2, S. 10] und auch niederschwellig verfügbar sind.
  • «Die FU in Langzeitpflegeinstitutionen und Behinderteneinrichtungen konnte mangels Rücklauf in der Evaluation nicht untersucht werden. Die Sensibilität bzgl. der FU und weiterer «Zwangsmassnahmen» in diesen Institutionen ist zu fördern. Die Definition der Umsetzung der Aufsichtspflicht kann hierbei Transparenz und einheitliches Vorgehen sicherstellen» [2, S. 10].
5. Fürsorgerische Unterbringung, Zwangsmassnahmen und ihre institutionsspezifische Handhabung
«Die Umsetzung der Zwangsmassnahmen gestaltet sich je nach Institution (Psychiatrie, Akutsomatik, Langzeitpflege) unterschiedlich» [2, S. 10]. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, «dass im KESR nicht systematisch von der Person und ihrer Autonomie ausgegangen wird, sondern teilweise institutionelle oder einrichtungsspezifische Aspekte im Vordergrund stehen (z.B. psychiatrische Klinik vs. somatisches Spital; Klinik/Spital vs. Pflegeeinrichtung). Dabei sollte das Setting bzw. die Institution als «geeignete Einrichtung» keinen grundlegenden Einfluss auf den Umgang mit Zwangsmassnahmen haben. Unterschiede sind diesbezüglich aus fachlicher, ethischer und rechtlicher Sicht bedenklich. Vor diesem Hintergrund ergibt sich folgende Empfehlung» [2, S. 10]:
  • «Überprüfung der KESR-Bestimmungen hinsichtlich Unterschieden zwischen Psychiatrie, Akutsomatik und Langzeitpflege. Durch die konsequente Ausrichtung auf die Wirkung von Zwangsmassnahmen resp. von FU auf die betroffene Person sollten die rechtlichen Grundlagen für alle Zwangsmassnahmen unabhängig vom Setting bzw. der «geeigneten Einrichtung» gleich sein» [2, S. 10] und entsprechend zur Anwendung kommen.
6. Hilfsmittel zur Förderung der Selbstbestimmung
«Spezifische Instrumente zur Stärkung der Selbstbestimmung, die im Rahmen der Revision des KESR eingeführt worden sind (z.B. Verfahrensvertretung, Patientenverfügungen, Vertrauensperson, Behandlungsgrundsätze) werden in der Praxis selten eingesetzt» [2, S.10]. Die Frage der Nützlichkeit und Umsetzbarkeit in einer zunehmend bürokratisierten Medizin ist hierbei kritisch zu würdigen. Massnahmen zur Förderung der Machbarkeit – unter Berücksichtigung des schwächebedingten erhöhten Unterstützungsbedarfs – würden mit einem weiteren Mehraufwand seitens der involvierten Systeme einhergehen (neben Gesundheitseinrichtungen auch Behörden, gesellschaftliche Angebote, Beratungsstellen etc.). «Bei der Gewichtung der Selbstbestimmungsförderung und des Schutzes der Freiheitsrechte im Zusammenhang mit der FU, den bewegungseinschränkenden Massnahmen und der Behandlung ohne Zustimmung» [2, S. 11], ist in einer zunehmend ökonomisierten Medizin zu berücksichtigen, «dass die Betroffenen besonders schutzbedürftig sind und keine starke Lobby-Unterstützung haben. Vor diesem Hintergrund ergeben sich folgende Empfehlungen» [2, S. 11]:
  • «Einführung einer regelhaften Überprüfung der FU durch eine externe Instanz (KESB oder Gericht) innerhalb der ersten 24–72 Stunden, unabhängig davon, ob eine Beschwerde erhoben wird oder nicht.
  • Förderung des Einsatzes der im aktuellen Gesetz bestehenden Möglichkeiten zur Stärkung der Selbstbestimmung und des Rechtsschutzes (beispielsweise kostenlose juristische Verfahrensvertretung für Betroffene)» [2, S. 11].

Diskussion

Mit der Einführung der Bestimmungen über die fürsorgerische Unterbringung als Teil des Kindes- und Erwachsenenschutzrechts werden unter Berücksichtigung der Voraussetzungen für eine Einschränkung der persönlichen Freiheit auch Aspekte der Zuständigkeit und Geeignetheit explizit behandelt. Rechtsschutz und Selbstbestimmung sollen gesetzlich gestärkt werden. Neben den juristischen und medizinischen Bedingungen sind bei der Umsetzung von Eingriffen in die Grundrechte gerade in einem föderalistischen System, allerdings auch gesellschaftliche Aspekte (Werteurteile, Risikoaffinität, Finanzierungsfragen etc.), an der Schnittstelle Individuum und Gesellschaft zu berücksichtigen. Die Prämisse Zwang als «ultima ratio» bedingt eine angemessene Prävention und einen konsequenten Schutz vor Missbrauch. Ein enger Ermessensspielraum und eine klare Trennung von polizeilichen versus fürsorgerischen Gründen einer Unterbringung können dabei hilfreich und zielführend sein.
Die kritische Reflexion und Überprüfung der bisherigen Praxis im Umgang mit Zwangsmassnahmen hat begonnen und fliesst in die aktuell geführten Diskussionen ein um Unrecht zu verhindern, Schaden zu minimieren und die Grundrechte aller Menschen zu schützen. Dazu gehören Massnahmen wie die vom Bundesrat eingesetzte unabhängige Expertenkommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der «administrativen Versorgung bis 1981», wie auch wissenschaftliche Untersuchungen von Zwangsmassnahmen im aktuellen medizinischen Kontext. Aus der ersten grösseren multizentrischen und multiperspektivischen Studie zur Umsetzung der einzelnen rechtlichen Regelungen zur FU und damit verbundenen Zwangsmassnahmen [2] lassen sich eine Reihe Empfehlungen ableiten, die zusammenfassend in diesem Artikel dargestellt wurden. Sie fokussieren auf Anpassungsbedarf bei einigen grundlegenden Themen, die es zu adressieren gilt, um die intendierten Verbesserungen der fürsorgerischen Praxis bei als schutzbedürftig wahrgenommenen Personen mit Beeinträchtigungen, vulgo Behinderungen, verbindlich zu realisieren. Zu den Themen gehören:
  • die Reduktion der interkantonalen Heterogenität, um die Rechtsgleichheit unabhängig vom Wohnort zu erhöhen
  • die Erhöhung des Verbindlichkeitsgrads für die Rechtsmittelbelehrung, um den Betroffenen möglichst niederschwellig eine gerichtliche Prüfung der angeordneten Massnahmen zu ermöglichen beziehungsweise eine reguläre rechtliche Beurteilung der FU innerhalb weniger Stunden, wie dies in den meisten umliegenden Ländern erforderlich ist
  • die verbindliche Feststellung der Urteilsunfähigkeit als Voraussetzung für die Anordnung von Zwangsmassnahmen jeglicher Art, um eine aus ethischer Sicht illegitime Anwendung von Zwang bei urteilsfähigen Personen zu unterbinden
  • die Übertragung der Anordnungskompetenz für die FU auf einen eng gefassten und entsprechend geschulten Personenkreis, um die Professionalität für diese anspruchsvolle Tätigkeit zu erhöhen
  • die Differenzierung der geeigneten Einrichtungen gemäss Zweck der FU, um die Handlungsfähigkeit der aufnehmenden Einrichtungen zur erhöhen sowie den Grundversorgungsauftrag mit Aufnahmepflicht auf tatsächlich geeignete Einrichtungen zu übertragen
  • die Erhöhung der Verbindlichkeit von Massnahmen zur Förderung der Selbstbestimmung, gegebenenfalls unter Prüfung von neuen, niederschwelligen Massnahmen (z.B. kostenloser Rechtsbeistand)
Die bundesrechtliche Vereinheitlichung der materiellen Voraussetzungen und der Verfahrensvorschriften sowie die verfahrensrechtliche kantonale Umsetzung bilden seit 2013 die Grundlage für die Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung und den konsekutiven Rechtsschutz gegen diese Massnahmen. Das KESR hat damit das Potential, die von der Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen (UN-BRK, [12]) geforderte Rechtgleichheit für alle Personen, unabhängig von deren Beeinträchtigung, zu verbessern. Hierzu wäre eine Auslegung und Umsetzung der Gesetzgebung im Sinne einer Spezifizierung für Personen in «Schwächezuständen» mit «Schutzbedürftigkeit» für eng definierte Situationen erforderlich.
Wird der ausgeprägte Schutzbedarf der betroffenen Personengruppe zuzüglich der schwachen Lobby-Unterstützung berücksichtigt und vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen unter Berücksichtigung des «Zeitgeistes» gewürdigt, erscheint der Ausbau der Aufsichtspflicht und Kontrollauflagen zielführend, um als weniger einschneidende Massnahme – zumindest aus Betroffenenperspektive – die Anwendung von Zwang regelmässig zu hinterfragen und nicht als systemimmanent hinzunehmen. Bei der Gewichtung der «persönlichen Freiheit» im Kontext eines Schwächezustandes kommt der «Urteilsfähigkeit» bei der fürsorgerischen Unterbringung in eine «geeignete» Einrichtung eine besondere Rolle zu, lässt sich bei einer urteilsfähigen Person die fürsorgerische Unterbringung in einer medizinischen Einrichtung – bei Berücksichtigung der Selbstbestimmungsfähigkeit – nicht mehr rechtfertigen. Schliesslich gilt es neben der Problematisierung von Doppelrollen und institutionellen Abhängigkeiten in dieser sensiblen Thematik auch den Befähigungsaufwand zu berücksichtigen. Es stellt sich die Frage, wieviel das Freiheitsrecht und der Fürsorgeanspruch aktuell wert sind und welcher Aufwand zur Vermeidung von Missbrauch gerechtfertigt ist. Professionalisierte Angebote, die eine vereinheitlichte, unabhängige und qualitätssichernde Vorgehensweise erlauben und zudem im Sinne der Vorhalteleistung auch notfallmässig abrufbar sind, könnten neben dem kostenfreien Rechtsbeistand oder der routinemässigen Überprüfung der FU-Voraussetzungen durch externe Behörden flankierende Massnahmen zur Autonomiesicherung und Fürsorge im Rahmen des Kindes- und Erwachsenschutzrechts darstellen. Massnahmen, die von der Gesellschaft für die Gesellschaft angeboten werden könnten. Bleibt die herausfordernde Frage zu diskutieren, wieviel uns als Gesellschaft die Förderung der Selbstbestimmtheit bei der von FU betroffenen Personengruppe wert ist und wie es sich mit den gesellschaftlichen Ordnungsansprüchen verhält.
Prof. Dr. med. Matthias Jäger Psychiatrie Baselland, Liestal
Prof. Dr. med. Matthias Jäger
Psychiatrie Baselland
Bienentalstr.7
CH-4410 Liestal
matthias.jaeger[at]pbl.ch
1 Büchler A, Michel M. Fürsorgerische Unterbringung und Zwangsbehandlung. Medizin – Mensch – Recht. 2nd ed. Zürich: Schulthess Verlag; 2020.
2 Socialdesign und Forschungsgruppe Mental Health Care and Service Research. Evaluation der Bestimmungen zur fürsorgerischen Unterbringung (FU; Art. 426 ff. ZGB). Im Auftrag des Bundesamtes für Justiz; 2022 [abgerufen am 11.10.2023]. Abrufbar unter: https://www.bj.admin.ch/bj/de/home/publiservice/publikationen/externe/2022-08-02.html
3 Jäger M, Hotzy F, Traber R, Morandi S, Schneeberger AR, Spiess M, et al. Kantonale Unterschiede bei der Umsetzung der fürsorgerischen Unterbringung in der Schweiz. Psychiatr Prax. 2024 Jan;51(1):24–30.
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11 Schwenkel C, Ritz M. Aufgabenüberprüfung betreffend die fürsorgerische Unterbringung im Kanton Basel-Stadt. Interface Politikstudien Forschung Beratung, Luzern 2018 [abgerufen am 11.10.2023]. Abrufbar unter: https://www.interface-pol.ch/projekt/aufgabenueberpruefung-betreffend-die-fuersorgerische-unterbringung-im-kanton-basel-stadt
12 United Nations. (2006). Convention on the Rights of Persons with Disabilities [abgerufen am 11.10.2023]. Abrufbar unter: https://www.edi.admin.ch/dam/edi/de/dokumente/internationales/amtliches/uno-konvention.pdf.download.pdf/uno-konvention.pdf
Acknowledgements
Der vorliegende Artikel basiert auf dem Bericht zur Evaluation der Bestimmungen zur fürsorgerischen Unterbringung (FU; Art. 426 ff. ZGB), der vom Bundesamt für Justiz extern in Auftrag gegeben wurde. Es handelt sich um eine Zusammenfassung der Handlungsfelder und Empfehlungen aus diesem Bericht.
Die Evaluation wurde durch eine interdisziplinäre Begleitgruppe unterstützt.
Juristische Begleitung durch Urs Vogel, MPA, lic. iur., dipl. Sozialarbeiter HFS.
Kooperationspartnerinnen der Evaluation: Psychiatrie Baselland, Psychiatrische Dienste Graubünden, Clinica psichiatrica cantonale Ticino, Département de psychiatrie CHUV, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich.
Ethics Statement
Die Evaluation, auf der dieser Artikel basiert, wurde durch die Kantonale Ethikkommission Zürich als Leitkommission für die multizentrische Studie am 01.09.2021 bewilligt (BASEC 2021-00857).
Conflict of Interest Statement
Die Autorinnen und Autoren haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Author Contributions
Alle Autorinnen und Autoren haben substanziell zur Konzeption und Umsetzung der Studie beigetragen, an der Erstellung des Manuskripts mitgearbeitet und dessen definitive Version gutgeheissen. Die Datenanalysen wurden durchgeführt von MS und FH.