Das schwarze Loch
First Person Account

Das schwarze Loch

First Person Account
Issue
2024/08
DOI:
https://doi.org/10.4414/sanp.2024.1503894443
Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2024;175:1503894443

Published on 17.08.2024

In den engen Tälern Norditaliens sagen die Menschen zu dem Rumoren im Erdinnern il rombo. Dann, wenn sich tief innen die Kontinentalplatten verschieben und später die Erde bebt. Unklar, wann und wie sich die Spannung entladen wird, wie gross der Schaden sein wird, wenn sich die Schichten bewegen und die Landschaft umformen.
Meine Erde bebte an einem sonnigen Märztag und erschütterte gegen 16:00 Uhr das winzige Stück Boden, auf dem mein erschöpftes Leben nach einem äusserst kräftezehrenden Schicksalsschlag damals noch stand. Die angestaute Spannung eines Konflikts mit meinem Arbeitgeber entlud sich mit grosser Wucht an der Banalität eines Tippfehlers. Das Ausmass der Katastrophe war erst später sichtbar: die Vergangenheit lag in Trümmern, die Zukunft in Schutt und Asche, die Gegenwart im Dreck und die innere Landschaft war durch Spaltbildung, Stosslinien und Bruchfugen grundlegend umgeformt. Eine noch grössere und noch härtere Aufgabe war für mich bereit.
Ich hatte mein il rombo wochen- und monatelang dokumentarisch rekonstruiert. Daraus wurde eine Geschichte mit einem Ende, das heute so gut wie vorbei ist. Das Pendel schwang aber noch lange zwischen den Höhenlinien und den metaphorischen Tiefenschichten hin und her. Sie wurde mir eine tiefgreifende Lebenserfahrung, die heute immer wieder empathisch in meinem Leben anklingt.
Erst mit dem Erinnern wird klar – hier geht es auch um Kunst: um die Kunst des Fühlens, Schauens, Benennens, das fast selbst wie ein Erdbeben wirkt. Ein kunstvoll hergestelltes Chaos der Sphären und der Wörter. Denn erst, wenn die Welt ins Wanken kommt – und wenn es nur die eigene ist – wird die Wirkung der seismologischen Begriffe deutlich: Spaltbildung, Stosslinien, Bruchfugen.
Ich bin nicht mehr damit beschäftigt, die damalige Zeit zu bezwingen. Aus dem Chaos wurde Ordnung, aus der Erschöpfung Schöpfungsversuche, aus den Verlusten Hoffnung und aus dem Ende ein Neuanfang.
Nur zwei T’s sind übriggeblieben: die Trigger und die Trauer. Und sie werden bleiben. Ich habe gelernt, trotzdem gut zu leben. Vielleicht auch deshalb, weil damals kaum etwas anderes blieb, als (be)schreibend mein Leben zu gestalten. Ich reflektierte Erlebtes, liess die Sprache von der Leine und schrieb. Vom Schweren und vom Leichten. Vom Vergessen und vom Erinnern. Vom Suchen und vom Finden. Von verlorenen Fäden und von verknüpften Enden. Von ausgefransten Zielen und Gängen ins Labyrinth. Vom schwarzen Loch.
Ich schrieb, weil ich Antworten brauchte. Wenn das Verlorene rief, wenn Zweifel mein Leben dominierten, wenn Widersprüche mich ratlos machten. Ich schrieb, um das Verlorene zu bestätigen, um Zweifel zu rechtfertigen, um Widersprüchen zu widersprechen. Ich glaubte, dieses Schreiben könne die Erinnerung an diese Erfahrung am besten überbrücken, verdauen, tilgen, beenden. Ich schrieb, um zu verstehen – nicht nur den Tippfehler. Ich schrieb, um mir das schwarze Loch zu erklären.
Das schwarze Loch war mehr als nur etwas Traurigkeit und auch mehr als nur «schlecht drauf sein». Es war weniger die Abwesenheit von Glück, sondern vielmehr ein Mangel an Vitalität. Es war eine Mischung aus andauernd überschiessendem Adrenalin, das ganz hibbelig machte und gleichzeitiger endloser innerer Leere, die mich nicht mehr fühlen liess.
Das schwarze Loch fühlte sich als mentale Lähmung an, wo nichts mehr ging, als Ohnmacht mit der Schwere eines Zementsacks, als unendliche Erschöpfung, die mich trotzdem nicht schlafen liess und so klang wie ein leerer Akkubohrer.
Im schwarzen Loch herrschte ein Pessimismus, obwohl es Perspektiven gegeben hätte, eine nie dagewesene Ausweglosigkeit, obwohl es mehr als einen Weg gegeben hätte, eine ausgeprägte Freudlosigkeit, obwohl es Anlass zu Freude gegeben hätte, eine unerklärliche Antriebslosigkeit, obwohl es so viel zu tun gegeben hätte. Da waren nur noch unlösbare Probleme, obwohl es Lösungen gegeben hätte. Da war das Bedürfnis, mit Menschen zu sein, obwohl ihre Gesellschaft unerträglich war und bitterböser Zynismus, der früher auch nicht war.
Mit dem schwarzen Hund an meiner Seite war es so, als ob im Kopf nur Brei wäre. Ein pseudodementer Zustand, wo mir fortlaufend alles aus dem Hirn fiel und alle Gedanken sofort zu Staub zerbröselten. Und wegen dem Brei und dem Staub im Kopf konnte ich während Wochen und Monaten keine klaren Gedanken fassen, keine noch so kleine Absicht formulieren.
Während der Depression kam es vor, dass ich im Quartierladen stand und nicht mehr wusste, warum, und mich auch nach 15 Minuten nicht mehr erinnern konnte, was ich da wollte. Es kam vor, dass ich mitten im Satz den Faden, das Stichwort, Wörter nicht mehr fand und mich nicht mehr erinnern konnte, dass ich das Gleiche eben schon erzählt hatte. Mit dem schwarzen Hund an meiner Seite konnte ich mir nichts mehr merken, auch nicht für zwei Sekunden, nicht mehr richtig sehen, mich nicht mehr orientieren.
Eine Depression ist eine Krankheit, die jeden treffend kann, die nicht ansteckend ist, die unbedingt professionelle Behandlung und vielfach Medikation mit «Teufelszeug» braucht.
Eine Depression ist eine Krankheit, die oft mehr als eine Ursache, aber meistens nur einen Auslöser hat, viel Geduld braucht, weil es Rückschläge gibt, viel Zeit beansprucht, weil der Genesungsverlauf nicht vorhersehbar ist.
Wer sich eingesteht, dass es ohne professionelle Hilfe nicht mehr geht, hat den schwierigsten Schritt getan, braucht sich und anderen nichts mehr vorzumachen. Endlich.
Wer sich die Krankheit eingesteht, steht zu seinen Ängsten, stellt sich seinem Leben, konfrontiert sich unter Anleitung seiner Geschichte, besinnt sich irgendwann seiner Talente, Bedürfnisse und Wünsche und lernt seine Quellen der Kraft kennen, egal ob Boxsack oder Pastellfarben auf Leinwand.
Wer sich die Krankheit eingesteht, ist nicht mehr in der Lage, Erwartungen und Perfektion für die Ziele anderer zu erfüllen, sondern muss in eine andere Richtung laufen, in einer neuen Zukunft Erfüllung finden und gewinnt Haltung und Weisheit, zu der man später «persönliche Reife» sagen wird.
Wer sich auf diesen Weg begibt, lernt zu vergeben, zunächst sich selbst, sich zu genügen mit dem, was geht und zu lieben, was ist.
Wem die Diagnose mit zwei, drei und F gestellt wird, versteht bald, dass die nötigen Veränderungen Verlust bedeuten und begreift gleichzeitig, dass genau deshalb Veränderungen schmerzhaft sind, versteht irgendwann, dass die erlittenen Verluste Veränderungen verlangen, versteht erst spät, wie sich mit der Krankheit Grundlegendes verändert und versteht vielleicht nie, warum es so kommen musste, wie es gekommen ist.
Während der Krankheit musste ich anerkennen, dass die Zukunft, die ich mir in der Vergangenheit ausdachte und in der Gegenwart anstrebte, zerbrochen war. Ich realisierte, dass das Leben weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft stattfindet, sondern nur im schmalen Spalt dazwischen. Ich wurde gezwungen, für mich selbst Verantwortung zu übernehmen und wurde damit Schöpferin und Gestalterin meiner Zukunft.
Mit der Auseinandersetzung mit der Krankheit wurde mir nichts geschenkt und nichts beigebracht, sondern ich entdeckte mich selbst. Mir begegneten zufällige Erkenntnisse, neue Perspektiven, beiläufige Erklärungen und damit vielleicht der Schlüssel zu allem.
Im schwarzen Loch war es das Schwierigste, am «Tisch des Nicht-Wissens» zu sitzen. Das Schmerzhafte zu dulden und es auszuhalten, die Dunkelheit am sonnigsten Tag anzunehmen und sie auszuhalten, die Kontrolle verloren zu haben und das auszuhalten. Sitzen und Schmerz aushalten. Gehen und Ohnmacht aushalten. Stehen und Rastlosigkeit aushalten. Kochen und Appetitlosigkeit aushalten. Im Bett liegen und Schlaflosigkeit aushalten. Der Familie nicht gerecht werden und auch das aushalten.
Im gegenwärtigen Augenblick grosser Not, Verzweiflung und Ohnmacht den Schmerz anzunehmen, schien kaum möglich, aber es war der einzige Weg, damit der Schmerz nachliess. Am Anfang nur für wenige Sekunden. Wenigstens. Endlich.
Dabei wäre es am bequemsten gewesen, am Vertrauten, am Bekannten festzuhalten, an der Illusion. Um die Kontrolle zurückzugewinnen. Um die Realität abzuwenden, was mir unerträglich erschien, was ich nicht wahrhaben wollte, was nicht mehr ging – dass es nicht mehr ging.
Dabei wäre es am besten gewesen, wenn es einfach vorbeigegangen wäre. Der Schmerz in der Brust. Die Lähmung im Körper. Die Ohnmacht im Geist. Die Verzweiflung in der Seele. Der Brei im Kopf. Der Staub im Hirn. Das Nicht-Fühlen im Herz. Aber es ging nicht einfach so vorbei.
Im schwarzen Loch war das Zermürbendste, das Unbekannte in mir zu erforschen, meine beschränkte Sicht auf das Leben zu weiten. Anzuerkennen, dass das Leben nicht so ist, wie ich es mir wünsche, sondern so ist, wie es ist. Dass das Unbekannte genauso dazugehört wie das Ewiggestrige, das Erfreuliche genauso wie das Unerfreuliche, das Erwünschte genauso wie das Unerwünschte. Dass schlechte Zeiten wie gute Zeiten gleichermassen berechtigte Erfahrungen sind.
Dann, irgendwann, zeigte sich der Ort, wo die Wunden des Lebens auf eine erträgliche Grösse schrumpften und als Narben ruhen konnten. Erst dann ging der Blick wieder in die Weite, wo es ihn in den Himmel hinaufzog, dorthin, wo die Wolken auseinandergehen und sich ein kleines Loch in die Unendlichkeit öffnete, eine kleine Lücke das Tor zur Zukunft wurde und sich mir als Glück anbot. Als Glück, dass aus dem Blau des Himmels und der Weite des Möglichen die Zuversicht in meine Bestimmung entstehen lassen konnte.
Das schwarze Loch war für mich nicht nur eine ätzende, schwierige, kräfteraubende, komplizierte Krankheit, sondern auch ein Türöffner zu mir und meinen Bedürfnissen, der Wegweiser zu meiner Zukunft und meiner Bestimmung. Und eine Gelegenheit, wie es im Leben nur ganz wenige gibt. Oder in den Worten von Mizuta Masahide ausgedrückt:
Die Hütte brannte nieder –
jetzt
kann ich den Mond sehen

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