Keine Psychiatrie ohne Psychotherapie
Unentbehrlich

Keine Psychiatrie ohne Psychotherapie

Interview
Issue
2024/01
DOI:
https://doi.org/10.4414/sanp.2024.1246547087
Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2024;175(01):30-32

Affiliations
a Chefarzt Klinik Zugersee Triaplus, Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie, Oberwil-Zug, Schweiz
b Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Schweiz
c Spezialarzt für Psychiatrie und Psychotherapie

Published on 14.12.2023

Welche Rolle spielt die Psychotherapie in der Psychiatrie und was charakterisiert ärztliche Psychotherapie? Prof. Dr. med. Michael Rufer, Chefarzt Klinik Zugersee und ehemaliger Präsident des Weiterbildungsvereins Psychiatrie und Psychotherapie Zürich, Zentral-, Nord- und Ostschweiz im Gespräch mit Karl Studer.
Karl Studer: Der Schweizerische Facharzt lautet FA für Psychiatrie und Psychotherapie und wird gestaltet durch eine Ausbildung während des Studiums und eine Weiterbildung im Rahmen der Assistenz-Tätigkeit. Im Sinne der frühen Integration wird bereits am Anfang des Medizinstudiums an der Universität Zürich (UZH) ein Studienschwerpunkt Psychiatrie und Psychotherapie als Option angeboten, wohl nicht zuletzt im Hinblick auf eine mögliche Nachwuchsförderung. Zudem leitest du seit über zehn Jahren ein Mantelstudium-Modul in ärztlicher Psychotherapie. Wie ist dieses Mantelstudium gestaltet und welche Inhalte werden dabei vermittelt?
Michael Rufer: Dieses Modul haben wir aufgebaut, um möglichst früh im Medizinstudium die Bedeutung der Psychotherapie für Ärztinnen und Ärzte herauszustreichen. Wir waren damals sehr gespannt, ob es gelingen würde, die Studierenden bereits ab dem zweiten Studienjahr mit den praktischen Aspekten der Psychotherapie vertraut zu machen. Kurz gesagt funktioniert das bestens, es ergeben sich lehrreiche Diskussionen und das Feedback der Studierenden ist ganz überwiegend positiv. Diejenigen, die noch keine anderen Psychiatrie-Lehrveranstaltungen besucht haben, erleben das Thema als guten Einstieg in das Fach Psychiatrie und wertvoll in Hinblick auf die generelle Gestaltung der Arzt-Patienten-Beziehung. Fortgeschrittene Studierende berichten, dass es eine gute Ergänzung zu den Vorlesungen und Kursen in Psychiatrie und Psychotherapie ist und kaum Überschneidungen mit diesen gibt.
Prof. Dr. med. Michael Rufer
Unterrichtet wird im Modul in sieben vierstündigen Blöcken, sehr praxisorientiert, mit Beteiligungen von Patientinnen und Patienten, Psychotherapievideos, Rollenspielen, etc. Vermittelt werden psychotherapeutische Basisfertigkeiten und deren Bedeutung für die Behandlung von psychisch wie auch somatisch kranken Menschen. Dementsprechend sind auch Kolleginnen und Kollegen von der Somatik als Dozierende beteiligt und erläutern den Studierenden zum Beispiel, inwieweit sie in der Praxis psychotherapeutische Elemente nutzen und wo die Grenzen zur psychiatrischen Psychotherapie im engeren Sinne liegen.
KS: Und was beinhaltet der Studienschwerpunkt Psychiatrie und Psychotherapie?
MR: Der Studienschwerpunkt ist quasi ein Sprungbrett in die Weiterbildung. Interessierte Studierende erhalten ein in das Studium integriertes Angebot für eine intensivierte Ausbildung im Fach Psychiatrie und Psychotherapie. Dafür nutzen sie die bestehenden Wahlmöglichkeiten im Medizinstudium, zu denen die Mantelstudium-Module, die Masterarbeit und Teile des Wahlstudienjahres gehören. Zudem werden sie durch erfahrene Mentoren aus der Psychiatrie und Psychotherapie unterstützt.
KS: Wird der Studienschwerpunkt später in der Weiterbildung im Curriculum Psychiatrie/Psychotherapie angerechnet?
MR: Nein, das war ursprünglich eine Idee, diese hat sich aber bisher nicht verwirklichen lassen. Für die Zukunft wäre aus meiner Sicht sicher überlegenswert, ob Aus- und Weiterbildung weniger scharf voneinander getrennt werden. Dann könnte das erfolgreiche Absolvieren eines solchen Studienschwerpunktes beispielsweise mit einem Jahr auf die Dauer der Weiterbildung angerechnet werden. So würde sich die sehr lange Ausbildungszeit zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie von zwölf auf elf Jahre verkürzen, wodurch auch dringend notwendige Massnahmen zur Erhöhung der Zahl von in der Schweiz ausgebildeten Psychiaterinnen und Psychiatern schneller greifen könnten.
KS: Zur Weiterbildung in Psychotherapie im engeren Sinne im Rahmen der Facharztweiterbildung organisiert der Weiterbildungsverein Psychiatrie und Psychotherapie Zürich, Zentral-, Nord- und Ostschweiz (WBV) ein dreijähriges Curriculum, das mit dem Diploma of Advanced Studies (DAS) abgeschlossen wird. Du bist bis vor Kurzem Präsident des WBV gewesen, in dem etwa ein Drittel aller Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie in der Schweiz ausgebildet werden. Was waren die Gründe für den Aufbau dieses DAS und welche Psychotherapie-Methoden werden dabei anerkannt?
MR: Die Ausgangssituation vor gut 10 Jahren war, dass sowohl die Assistenzärztinnen und -ärzte als auch die im WBV organisierten Leiterinnen und Leiter der Weiterbildungsstätten unzufrieden damit waren, dass das in den privaten Psychotherapie-Institutionen Gelernte für die ärztlichen Aufgaben im klinischen Alltag zu wenig relevant und bei den oft schwer und komplex erkrankten Patientinnen und Patienten schlecht anwendbar war. Der Studiengang des WBV, welcher 2012 startete und seitdem regelmässig durchgeführt wird, bildet die klinischen Situationen der Assistenzärztinnen und -ärzte ab und bezieht die in den Weiterbildungsstätten vorhandene Psychotherapiemethodenvielfalt ein. Wie von der FMH vorgeschrieben, entscheiden sich die teilnehmenden Assistenzärzte für eines der drei von der FMH anerkannten Psychotherapiemodelle, kognitiv-verhaltenstherapeutisch, psychoanalytisch oder systemisch. Im Unterschied zu anderen Curricula verbringen sie aber auch etwa ein Drittel des Unterrichts in modellübergreifenden Gruppen und lernen, die Spezifika des eigenen Therapiemodells zu erklären und zugleich die der anderen Modelle zu verstehen und einzubeziehen. Dies erleichtert den Transfer des Gelernten in den Arbeitsalltag, beispielsweise bei Fallbesprechungen im interdisziplinären Team.
KS: Sind hier private Psychotherapie-Institute zuständig und wie gestaltet sich die geforderte Selbsterfahrung und Supervision? Und wer bezahlt all diese Kosten?
MR: Private Institute sind nicht beteiligt. Der Studiengang Ärztliche Psychotherapie ist eine Weiterbildung des WBV für den Facharzttitel und zugleich ein Nachdiplomstudium der Universität Zürich. Supervision und Selbsterfahrung bei vom WBV anerkannten Kolleginnen und Kollegen werden von den Weiterbildungskandidaten eigenständig organisiert. Sie bilden zusammen mit dem Unterricht und den von den Studierenden durchgeführten Psychotherapien eine Einheit. Die Kosten tragen die Teilnehmenden, wobei die Weiterbildungsstätten zumeist einen Teil davon übernehmen.
KS: Wird erwartet, dass die Kaderärzte der Institutionen in diesen Prozess eingebunden werden?
MR: Ja, die Unterstützung der Studierenden durch ihre Oberärztinnen und Oberärzte am Arbeitsplatz ist ein weiteres wichtiges Element für den Transfer des Gelernten in den Arbeitsalltag. Die direkt zuständigen Oberärzte erhalten jeweils Informationen über die Themen, mit denen sich der Assistenzarzt oder die Assistenzärztin im Curriculum gerade auseinandersetzt. Darüber hinaus werden «Train the Trainer» Seminare für Oberärztinnen und Oberärzte angeboten. Ein Vorteil des WBV und damit auch des Studiengangs ist hierbei, dass ein direkter Kontakt mit den Leiterinnen und Leitern der Weiterbildungsstätten besteht, welche ja Mitglieder im WBV sind.
KS: In zunehmendem Masse werden in den Psychiatrischen Institutionen Assistenz- und Oberärzte aus anderen Ländern rekrutiert. Wie werden diese Kolleginnen und Kollegen in dieses Curriculum integriert?
MR: Der Mangel an Ärztinnen und Ärzten in der Schweiz betrifft nicht nur die Psychiatrie, sondern auch viele andere Fachrichtungen. Er führt dazu, dass bereits ausgebildete Ärztinnen und Ärzte aus anderen Ländern abgeworben werden, wobei offen ist, wie lange dies noch funktioniert, denn auch im Ausland ist das Fachpersonal knapp und die Arbeitsbedingungen bessern sich dort teilweise. Für die Psychotherapie sind natürlich eventuelle sprachliche Hürden besonders problematisch. Im Studiengang wird damit so gut wie eben möglich umgegangen, das ist nicht anders als in den Institutionen. Zudem wird mit allen interessierten Assistenzärztinnen und Assistenzärzten in einem Vorgespräch geklärt, inwieweit eine Teilnahme erfolgversprechend ist. Ganz allgemein finde ich es wichtig, dass vor einem Beginn Angebot und Erwartungen miteinander besprochen werden.
KS: Der WBV bietet zusammen mit der UZH auch ein einjähriges Anschlussstudium zum Master of Advanced Studies (MAS) in ärztlicher Psychotherapie an. Was ist der Sinn dieses Angebotes?
MR: Der Schwerpunkt dieses MAS ist die Psychotherapie als akademische Disziplin. Die Teilnehmenden vertiefen sich in Psychotherapie-Forschungsmethoden und unterschiedliche Studiendesigns und lernen, mit welchem Design sie welche Fragestellungen klären können. Dies dient zum einen der akademischen Nachwuchsförderung, zumal die Teilnehmenden auch eine eigene Forschungsskizze als Abschlussarbeit erarbeiten. Zum anderen ermöglicht diese Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Fragen der Psychotherapie, publizierte Forschungsresultate besser einordnen und sie hinsichtlich der eigenen Weiterentwicklung als Psychotherapeutin oder Psychotherapeut prüfen zu können.
KS: Wie steht es um die psychotherapeutische Forschung in der Schweiz? Warum hat es keine eigentlichen Lehrstühle für Psychotherapie, da ja an den Universitäten hauptsächlich organische Grundlagenforschung gefördert wird? Wird das den psychologischen Fakultäten überlassen?
MR: Der Mangel an Lehrstühlen für Psychotherapie an den medizinischen Fakultäten der Schweiz ist leider Realität und wird seit langem beklagt. Ich bin aber optimistisch, dass das Pendel auch wieder einmal zur anderen Seite ausschlagen wird, vom akademischen Neurobiologie-Schwerpunkt hin zum Psychotherapie-Schwerpunkt. Wobei es ohnehin an der Zeit ist, sich von der Gegenüberstellung biologische Forschung und Psychotherapie-Forschung zu verabschieden. Da die Psychotherapie integraler Bestandteil der Psychiatrie ist, was gerade in der Schweiz schon früh der Fall war, sollte psychiatrische Forschung immer auch Psychotherapie-Forschung beinhalten und Lehrstühle für Psychiatrie dementsprechend auch explizit auf Themen der Psychotherapieforschung ausgerichtet werden.
KS: Was unterscheidet die ärztliche Psychotherapie von der Psychotherapie-Weiterbildung anderer humanistischer Gebiete?
MR: Das ist schwierig zu definieren. Wir haben auch damals bei der Gründung des DAS Ärztliche Psychotherapie mit der Benennung gerungen, da diese missverstanden werden könnte. Der Begriff ärztliche Psychotherapie bezeichnet kein weiteres, eigenes Psychotherapiemodell oder -verfahren. Hingegen wird mit dem Begriff unterstrichen, dass die Fachkenntnisse, Erfahrungen und Sozialisierung als Mediziner auch die Art der Psychotherapie prägen und dass Psychotherapie häufig in einem medizinischen Setting angewendet wird. Dies ist bedeutsam, denn Psychotherapie ist mehr als Theorie und Technik, sie wird kontextabhängig und in Abhängigkeit vom Therapeuten hinsichtlich relevanter Aspekte unterschiedlich angewendet. Nur ein Beispiel von vielen: Als Arzt bin ich bereits im Studium mit schwerem Leiden, sterbenden Patienten und chronischen körperlichen oder psychischen Erkrankungen konfrontiert und muss meine persönliche und professionelle Haltung dazu finden. Während der Weiterbildung setzt sich dies dann in Bezug auf körperliche Erkrankungen vor allem im Fremdjahr fort. Auch der Umgang mit Menschen, die sich trotz schwerwiegenden Erkrankungen nicht helfen lassen möchten, begegnet einem schon früh als Herausforderung. Man lernt, diese Menschen dennoch ärztlich zu begleiten, kreative Wege zu gehen, Behandlungen trotz scheinbarer Aussichtslosigkeit nicht zu beenden. Dies wird dann später eine Stärke der ärztlichen Psychotherapie: Behandlungen werden niedrigschwellig gestaltet, biologische und soziale Therapieansätze wie selbstverständlich kombiniert und verschiedene Psychotherapiemethoden integriert, um Patienten mit Störungen aller Schwere- und Komplexitätsgrade gerecht werden zu können.
KS: Könntest du dir vorstellen, dass in der laufenden Fortbildung nach der Weiterbildung ähnliche Module angeboten werden?
MR: Ich bin überzeugt davon, dass dies auf grosses Interesse stossen würde. Das Lernen, Psychotherapiemethoden zu integrieren, beginnt oft erst so richtig nach der Weiterbildung. Eine daran orientierte Fortbildung kann einen solchen Lernprozess unterstützen.
KS: Psychotherapie ist ja eine sehr kopflastige Methode. Könntest du dir vorstellen, vermehrt den Körper dabei einzubeziehen?
MR: Keine Frage, ja. In der Praxis bewährt sich dies bei bestimmten Problemkonstellationen schon jetzt, es ist zu hoffen, dass auch die wissenschaftlichen Grundlagen noch ausgebaut werden. Womit wir wieder beim Thema der Förderung von Psychotherapieforschung sind.
KS: Was wolltest Du den Lesern dieser Zeitschrift schon lange gerne sagen?
MR: Die mir wichtige Sichtweise steckt schon im Titel dieses Interviews: Psychotherapie ist kein Add-on zur Psychiatrie, sondern ein nicht wegzudenkender Bestandteil der Psychiatrie, und ihre Stärken können selbstbewusst vertreten werden.
Dr. Karl Studer
Psychiatrie, Psychotherapie FMH
Praxis im Klosterhof
Klosterhofstrasse 1
CH-8280 Kreuzlingen
E-Mail: karl.studer[at]bluemail.ch