Eine etwas ungewöhnliche Buchbesprechung
Nina Moser schreibt über ihr Erleben der Zwangsstörung eine Maturitätsarbeit und erhält dafür einen wohlverdienten Preis. Die grosse literarische Leistung der jungen Schriftstellerin liegt nicht zuletzt darin, dass sie sich an das von Freud zitierte Motto Goethes hält: «Das Beste, was Du wissen kannst, darfst Du den Buben doch nicht sagen» [1]. Es wird sehr vieles nur durch Andeutungen und Umschreibungen ausgedrückt, sodass die Leser:innen zum Raten gezwungen werden. Die Defäkation wird nicht beim Namen genannt, wenn auch so treffend angedeutet, dass der Leser sich das adoleszente Mädchen lebhaft vorstellen kann, wie es sich mit der zwangshaften Reinigung herumquält. Das frühkindliche Kotschmieren wird als Möglichkeit angedeutet und damit ganz zart auf die Lust angespielt, die mit so viel Schuldgefühl verbunden ist:
«Habe […] mich einer perversen Gefangenschaft hingegeben, der Entwürdigung meiner selbst, habe mich gewunden in einer golden schimmernden Degradierung meines Wesens» (S. 15).
Im Vorwort heisst es, die Zwangsstörung, «unglaublich präsent» (S. 8), und doch nach Auffassung der Autorin so gut wie unbekannt, sollte endlich der Allgemeinheit von potenziell Betroffenen vorgeführt werden, es sollte gezeigt werden, «dass eine Verbesserung der Lage möglich ist» (S. 9).
Meine Nachfrage beim Verlag nach einer Möglichkeit, von der Autorin mehr über ihre Therapie zu erfahren, führte zu einem Austausch von E-Mails mit ihr.
Textstellen, die uns Hinweise darauf geben, wie es der Autorin gelingen konnte, sich von den ärgsten Leiden zu befreien, kommentierte ich, stellte ihr Fragen und erhielt von ihr aufschlussreiche Antworten.
«Ich machte eine Psychotherapie, die für den Heilungsprozess sicher eine wichtige Rolle gespielt hat. Es gibt einzelne Dialoge im Buch zwischen mir und meiner Psychotherapeutin (die aber bewusst nicht eindeutig als diese identifiziert werden im Buch - vielleicht meinen Sie diese.) Aber es stimmt, mir haben auch andere Aspekte geholfen. Ganz befreien konnte ich mich nicht aus den Zwangsstörungen, aber z.B. die Auflösung der Beziehung mit meinem damaligen Partner (vgl. Ende des Buches) hat viel dazu beigetragen, dass sich die Situation gebessert hat. Auf vieles blicke ich jetzt, ein paar Jahre später, aber auch nochmal mit einem anderen Blick zurück. Mir wurde z.B. erst später bewusst, wie ungesund diese Partnerschaft tatsächlich gewesen war und wie entscheidend sie sich auf die Zwangsstörungen ausgewirkt hat. Das Ganze ist also ein stetiger Prozess, der immer noch läuft. Heute geht es mir aber wirklich viel besser. Doch dazu musste ich vieles aufarbeiten, auch noch nach der Veröffentlichung des Buches - und dabei war die Psychotherapie schon essenziell» (Mail vom 28.11.2022)
Die Trennung vom Partner war sicher ein wichtiger Faktor für die Genesung, die meines Erachtens eine Neubearbeitung der ursprünglichen Schwierigkeit in der psychischen Kindheitsentwicklung darstellt. Die Adoleszenz als zweite Gelegenheit, diese Problematik zu bearbeiten, und zwar diesmal in einem grösseren sozialen Zusammenhang als in der frühen Kindheit, war in diesem Fall gegeben durch eine adoleszente intime Partnerbeziehung. Das allein schon kann traumatisch erlebt werden. Kommt bei der Autorin hinzu, dass die Beziehung mit dem Freund unglücklich verlaufen ist, sodass sie sich durch die Trennung geradezu retten musste.
Die ersten Ablösungsversuche aus der Symbiose mit der Mutter dürften durch starke Autonomie-Strebungen kompliziert worden sein. Die Regression auf die anale Stufe der Entwicklung, die in der Zwangssymptomatik eindrücklich dargestellt wird, ist wohl dem Versuch anzulasten, sich vor einer neuerlichen Einlassung in eine symbiotische Beziehung zu schützen. Die Abwehr der Symbiose spielte für die Partnerwahl und die Partnerbeziehung (bei beiden Partnern) eine wichtige Rolle.
Belege für diese Hypothesen finden sich auf S. 102 (Gefangenschaft und Hilflosigkeit in einer symbiotischen Beziehung), S. 114 («Man sollte die Dinge an ihrem Ursprung anpacken» – die Autorin will nicht essen, damit sie nicht defäkieren muss und regrediert in eine anorektische Symptomatik. Was als Behauptung der kleinkindlichen Autonomie gemeint war, äussert sich in der Adoleszenz als Störung. Die drohende Verschmelzung in der erotischen Partnerschaft wird abgewehrt, was über den Mechanismus der Regression und der Symptombildung und schliesslich gar durch die Trennung durchführbar war. Es ist gut nachvollziehbar, dass die Partnerschaft traumatisch und die Beendigung eine Erlösung war.
Die Adoleszenz gibt die Gelegenheit, mit neuen körperlichen, sexuellen Vorgängen die Verschmelzung zu erleben und auch aus ihr wieder herauszufinden. Dass dieses Herausfinden mit den Leiden einer schlimmen Trennung verbunden sein kann, ist zum Teil auch von der sozialen Umwelt abhängig. Ab S. 121, in (vermutlich inneren) Dialogen mit dem Partner, auf S. 123 mit der Therapeutin und mit der Mutter (S. 124), versuchen die Bezugspersonen ihr zu helfen, Distanz zu gewinnen, indem sie sie mahnen, sich auf sich selbst zu konzentrieren. Gerade dies tut sie aber ohnehin schon exzessiv mit der Zwangssymptomatik. Man könnte die Hypothese aufstellen, die Beschäftigung mit dem Kot sei das Wiederaufleben einer ursprünglich halbwegs gelungenen Separation in einer Beziehung, gefolgt von einem Unglück, zum Beispiel der traumatischen erzieherischen Folge des Kotschmierens.
Im Kapitel 63 schildert die Autorin ihren Versuch zur Realitätsprüfung, indem sie sich von der Vorstellung, Gedanken könnten unmittelbar die Realität beeinflussen, löst: Mit dem Verzicht auf die Vorfreude auf das Zusammensein mit dem Freund versucht sie, der Enttäuschung zu entgehen, die der Freund durch sein Wegbleiben bereitet. In dem Text, der aussieht wie der Versuch zu resignieren, sehen wir sie an der Arbeit mit einem Stück Selbstanalyse, das schliesslich zur Befreiung von den schlimmsten Symptomen geführt hat.
Nina Moser: ZWANG HAFT
Wie die Zwangsstörung mein Leben übernahm
Bern: Cameo Verlag; 2021. 250 Seiten, EUR 19.00.
ISBN: 978-3-906287-84-3
1 Freud S. Gesammelte Werke II/III: Die Traumdeutung; Über den Traum. Frankfurt am Main: Fischer Verlag; 1968. S. 147.