Ich-Verlust im Stimmengewirr
Karl Heinrich Fehrlin: Die Schizophrenie

Ich-Verlust im Stimmengewirr

Book Review
Issue
2023/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/sanp.2023.1189216104
Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2023;174(05):134

Published on 18.10.2023

Von dem hier rezensierten Buch kann zu Recht behauptet werden, dass es in der gesamten Psychiatrielandschaft eine Sonderstellung einnimmt. Es handelt sich um die Neuauflage einer Abhandlung von Karl Heinrich Fehrlin, der sie 1912 unter dem Titel «Die Schizophrenie» publiziert hatte. Der Autor, von Beruf Chemiker und Unternehmer, Bürger von Schaffhausen, der selbst an einer Schizophrenie erkrankt, beschreibt diesen Prozess der fortschreitenden und ihn in Form von dialogisierenden Stimmen zunehmend in Besitz nehmenden Erkrankung in unglaublich direkter und vereinnahmender Sprache. Es handelt sich um einen Text, der durchzogen ist von den subjektiven Selbsterfahrungen des Autors, die er aber in einer objektivierenden, von einer Neugierde und einem Forschungsinteresse geleiteten Perspektive beginnt, bis die Kontrolle über die Sprache ihm abhandenkommt und gewissermassen er selbst von den verschiedenen Stimmen gesprochen wird, es ihn spricht, so dass letztlich dem Text der intendierte Charakter einer Abhandlung und auch eines Rapports verlustig geht.
Fehrlin selbst war aber überzeugt von dem wissenschaftlichen Wert seiner Arbeit, so dass er den Text in Buchform in einer Auflage von 5000 Exemplaren drucken liess und hunderte davon an Psychiater in der Schweiz und in Deutschland versandte. Bekannt unter ihnen sind Eugen Bleuler, der nur ein Jahr früher 1911 seine umfangreiche und grundlegende Schrift «Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenien» als Handbuchbeitrag publiziert und dabei den Begriff der Schizophrenie in die Welt der Psychiatrie nachhaltig eingeführt hatte. Weitere Psychiater, die das Buch von Fehrlin auch gelesen hatten, sind Carl Gustav Jung, Wilhelm Weygant oder Karl Jaspers.
Allerdings blieb die vom Autor gewünschte Rezeption seines Textes weitgehend aus, nicht zuletzt, weil Fehrlins Halbbruder und Vormund den Grossteil der Auflage vernichten liess, da sie in dessen Augen ein Beleg für die Geisteskrankheit des Autors war und er möglicherweise ihn (und auch sich) vor einer Stigmatisierung schützen wollte.
Fehrlin hat mit seinem Beitrag, der von seiner persönlichen Erfahrung und der zugleich faszinierend wie irritierend subjektiven Perspektive geprägt ist, in den seit der Jahrhundertwende zum 20ten Jahrhundert geführten psychiatrischen Diskurs um die diagnostische Einteilung der psychischen Erkrankungen mit eingegriffen. Bemerkenswert – und wie dem Rezensenten scheint auch für ein gegenwärtiges Selbstverständnis der Psychiatrie von besonderem Wert – ist dieser Stellenwert der Subjektivität und letztlich auch Intersubjektivität im Verständnis psychischer Störungen, wie sie bereits Eugen Bleuler hervorgehoben hatte, der wie kein anderer universitär tätiger Psychiater der Zeit der Psychoanalyse Sigmund Freuds durchaus affin war, und also in Abhebung von Emil Kraepelin in der klinischen Arbeit auch auf die Inhalte psychotischer Wahrnehmungen und Denkinhalte fokussierte. Fehrlin hatte die Schrift von Bleuler aufmerksam durchgearbeitet und nimmt in seinem Text auch immer wieder detailliert Bezug darauf.
Die Wiederentdeckung dieser besonderen Schrift verdanken wir dem geradezu archäologischen Spürsinn und überaus verdienstvollen Forschungsinteresse von Katrin Luchsinger. Im Rahmen eines Nationalfondprojekts sei sie in der Sichtung und Inventarisierung künstlerischer Arbeiten von Patient:innen in den psychiatrischen Kliniken der Schweiz im Zeitraum von 1850–1935 in den Krankenakten der Klinik Breitenau in Schaffhausen auf die mehrfache Erwähnung dieser Abhandlung (genannt «Broschüre») gestossen. Daraufhin sei sie schliesslich in der Schaffhauser Stadtbibliothek fündig geworden und hat offenbar den besonderen Wert des Textes erkannt. In der Folge ist ihr in der Zusammenarbeit mit René Specht und dem Chronos-Verlag eine äusserst sorgfältig gearbeitete und auch äusserlich ansprechende Edition dieser Abhandlung gelungen. Sie vereint sowohl die Ursprungsfassung des Textes, in welcher sich der Prozess der zunehmenden Beeinträchtigung des Autors durch die Krankheit unter anderem auch am Wechsel von Schriftdeutsch in Schaffhauser Mundart nachvollziehen lässt. Zugleich wurde der Text ins Schriftdeutsche transkribiert, was ihn insbesondere auch für nicht der Mundart mächtige Leser:innen zugänglich macht.
Und schliesslich haben neben den beiden Herausgeber:innen verschiedene Autoren aufschlussreiche Kommentare verfasst. René Specht hat sich die «Puzzle-Arbeit» gemacht, den Text autobiografisch sowie auch in den historischen Kontext Schaffhausens (ein «Sittenbild») zu jener Zeit zu verorten. Katrin Luchsinger ist den Spuren Fehrlins als «Mündel, Patient, Autor» gefolgt und zeichnet nach, wie Fehrlin interniert zum Fall und bevormundet wurde, mehrere Klinikaufenthalte erlebte, wobei zunehmend weniger Einträge in der Krankengeschichte zu finden sind, nach 1932 über sechs Jahre kein einziger und Fehrlin schliesslich 1943 an Herzversagen stirbt. In einem längeren Beitrag kontextualisiert Luchsinger dann die Arbeit Fehrlins im psychiatrischen Diskurs seiner Zeit und erweist ihr damit eine posthume Würdigung, indem sie sie als «gegenmodernen Beitrag zur Psychiatrie» mit den Arbeiten eines Auguste Forel, Richard Semon, Daniel Paul Schreber, Carl Gustav Jung oder Eugen Bleuler in Verbindung bringt. Alfred Richli widmet sich in seinem Beitrag aus Dialektforschungsperspektive dem Text, indem er die der Schaffhauser Mundart eigenen phonetischen, morphologischen und lexikalischen Merkmale herausarbeitet. In seiner für die erwähnte aktuelle Debatte zur Identität der Psychiatrie als eigenes Fach überaus reflektierten Überlegungen strukturiert Paul Hoff nicht nur den Text, sondern skizziert in aller Kürze den Wert einer Denktradition für das Fach. Seine Lektüre unterteilt den Text in drei Phasen. Eine erste Phase, in welcher gewissermassen ein wissenschaftlicher Diskurs dominiert, eine weitere Phase, in welcher die kommentierenden Stimmen stärker werden und der Autor sich in einem Kampf gegen sie befindet und wiederholt mit der Frage konfrontiert ist, ob er selbst es noch ist, der schreibt, oder ob die Krankheit ihn schon soweit befallen hat und also die Angst dominiert, die Kontrolle und damit die Autonomie oder auctoritas zu verlieren; bis schliesslich in einer dritten Phase des Textes der Autor verloren geht und die Stimmen Überhand nehmen und ihm diktieren, so dass auch sie es sind, die den Text schliessen, indem sie dem ursprünglichen Autor sagen, dass er ja wisse, wo sie zu finden seien: «Doktor, wenn D’denn i einiger Zit wieder Lust häscht, no ne Mol mit üs in Verchehr z’trete, so wascht jo wie me’s cha mache. Bhüet Di Gott derweil!».
Karl Heinrich Fehrlin: Die Schizophrenie
Kommentierte Neuausgabe mit schriftdeutscher Übersetzung, herausgegeben von Katrin Luchsinger und René Specht
Zürich: Chronos; 2022. 424 Seiten, EUR 48.00. ISBN: 978-3-0340-1668-1