Thomas von Salis
In diversen Beiträgen stosse ich auf ethische Fragen, die in unserem psychiatrischen Beruf besonders komplex sind. Die neue Aufmerksamkeit, die ich dem Thema schenke, hat einen Vorläufer: meine Beschäftigung mit Delinquenz, besonders jugendlicher Delinquenz. Das Hinhören auf die impliziten, oft sogar unbewussten Überzeugungen hinsichtlich des Guten, Erlaubten, Verbotenen, Verwerflichen etc. sowie auf die ethische oder unethische Art im Arbeitsverhalten und in Entscheidungen mit einer gewissen Tragweite für das Gesundheitswesen und in letzter Konsequenz im Justizbereich, lohnt sich in der ganzen Ausdehnung des beruflichen und privaten Lebens. In den Beiträgen «A qualitative study among (para-)medical and non-medical professionals in Switzerland» und "The impact of established risk factors for psychosis on the 3-year outcomes» geht es um die diagnostische Präzisierung und die Optimierung der Massnahmen, ein ethisches Postulat. Zur Effizienz in der Pharmakotherapie wird zum Beispiel im Beitrag «Taux de valproate dans le traitement de maintien du trouble bipolaire - quel intérêt?» geschrieben.
Manchmal ist es der Analytiker, der uns auf ein moralisches Problem stösst, auf das wir gar nicht geachtet hatten. Oft kommt beim Studium der Zahlen in den Rechenschafts- und Geschäftsberichten ein Zweifel auf, der zu weiterem Denken anregt: Wie könnte man effizienter arbeiten, lange Wartelisten verkürzen, unnötigen Aufwand vermeiden.
Zweifel und Vorsicht sind nicht zuletzt auch im Hinblick auf mögliche Korruption und Machtmissbrauch angezeigt (siehe die Beiträge «Book review: Handbuch Häusliche Gewalt, Mellanie Büttner» und «Book review: Im Auftrag der Firma, Knuth Müller»). Das Engagement der Psychiater in Politik und Krieg ist ein ethisch befrachtetes Thema. Während in diesem Beitrag die Kollaboration mit dem US-Geheimdienst kritisch beleuchtet wird, habe ich in einer Buchbesprechung von Eisslers Buch übers Militär hervorgehoben, wie moralisch engagiert Eisslers Einsatz in der Armee gewesen ist. Ein differenziertes Urteil beruht auf dem Einbezug des grösseren Kontextes.
Was als ethisch vertretbar gilt oder nicht, wird nicht zuletzt von den Machtverhältnissen abhängen. Dürrenmatts Kaiser Romulus der Grosse sagt: «Was in meinem Hause klassisches Latein ist, bestimme ich» [1]. Dürrenmatt nennt ihn in den «Anmerkungen» einen «Weltenrichter» [2]. Die «Grösse» sieht Dürrenmatt in der weisen Bescheidung des letzten Kaisers von Rom, der eine friedliche Übergabe seines Amtes an den menschlichen und kultivierten Germanenfürsten Odoaker zustande bringt.
Die Untergangsthematik ist heute brandaktuell und die Bemühungen um die Ethik kommen in manchem zu spät. Dürrenmatts Stück, das sich mit seinem respektlosen Witz besonders für junge Leute eignet, rettet ein Stück Menschlichkeit aus dem Desaster. Und diese Menschlichkeit beruht im Einzelnen darauf, dass er (hier in Gestalt des Kaisers Romulus) die Verantwortlichkeiten richtig einschätzt.
In unserem Beruf, der mit supervisorischen Tätigkeiten einhergeht, können wir die Verantwortlichkeiten zum Beispiel differenziert lösen, wenn wir nicht durch Machtstreben oder andere neurotische Mechanismen davon abgehalten werden. Es liegt im Interesse aller, dass klargemacht wird, wer in einer Therapie und bei einem Fehler welche Verantwortlichkeit hat. Mit der genauen Analyse kann Unbehagen, Schuldgefühl, und können auch Fehler vermieden werden. Das Problem juristisch beurteilen muss man, wenn es schon zu spät ist. Und mit den Mitteln des Rechts kann man den Situationen, die wir im Beruf antreffen, nicht differenziert genug begegnen.
1 Dürrenmatt F. Romulus der Grosse. Zürich: Verlag der Arche; 1966. S. 12.
2 Dürrenmatt F. Romulus der Grosse. Zürich: Verlag der Arche; 1966. S. 86.