Die Affären Binswanger & Maier – antisemitische Hintergründe?

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Issue
2023/03
DOI:
https://doi.org/10.4414/sanp.2023.03382
Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2023;174(03):95-98

Published on 14.06.2023

Im zweiten Viertel des letzten Jahrhunderts warfen zwei Ereignisse einen Schatten auf die Psychiatrische Universitätsklinik Burghölzli. Die Unruhen und Zwistigkeiten im Personal, die über die Jahre hinweg auch öffentliches Aufsehen erregten, gingen als Affäre Binswanger und Affäre Maier in die Geschichtsschreibung ein. Die Situation beruhigte sich mit den Rücktritten des Oberarztes PD Dr. med. Herbert Binswanger im Jahre 1937 und des Klinikdirektors Professor Hans W. Maier im Jahr 1941. Die Vorkommnisse lassen die Züge eines von Mobbing und Intrige gekennzeichneten Geschehens erkennen. Die Streithähne deckten sich gegenseitig mit Ehrverletzungsklagen ein. Sowohl für Binswanger als auch für Maier wurde durch ihre Entlassung beziehungsweise den erzwungenen Rücktritt eine erfolgreiche respektive vielversprechende akademische Berufskarriere jäh beendet. Beide setzten ihre Tätigkeit als Leiter einer psychiatrischen Privatklinik und in freier Praxis fort.
Hans Wolfgang Maier (1882-1945).
Herbert Binswanger (1900-1975).
Anlass für den Aufruhr gegen Binswanger war zunächst eine Missstimmung wegen seines angeblich geringschätzigen und verächtlichen Umgangs mit den Assistenzärzten. Die Causa Maier wurde ausgelöst, nachdem eine geheime Liebesbeziehung mit einer ihm von einem Berufskollegen zur fürsorglichen Begleitung anempfohlenen Patientin ans Tageslicht gekommen war. Im Jahre 1939 war eine Vaterschaftsklage eröffnet worden. Das Vorgehen aller involvierter Kläger nahm auffallend heftige bis fanatische Züge an, so dass schon bald der Verdacht aufkam, dass in den Jahren des grassierenden Faschismus antisemitische Beweggründe im Hintergrund gewirkt hätten. Beide angegriffenen Psychiater waren zwar christianisiert, stammten aber aus gehobener jüdischer Herkunft.
Professor Maier stand der Klinik als Nachfolger von Professor Eugen Bleuler und Vorgänger von Professor Manfred Bleuler in den Jahren von 1927 bis 1941 vor. Der von ihm angestellte Herbert Binswanger versah vom Jahr 1932 bis zu seinem Rücktritt im Jahr 1937 die Stelle eines Oberarztes.

Die Affäre Binswanger

Gemäss dem Psychiater Max Müller [1] hätten mehrere frontistische Assistenzärzte am Burghölzli Vorwürfe gegen Binswanger erhoben, die zu einem «langwierigen Gezänk» geführt hätten. Ausgelöst wurde dieses durch die Behauptung der Assistenzärzte Wespi und Meier, Binswanger habe die Laboratoriumsarbeit des Letzteren gegenüber einem Fakultätskollegen abschätzig beurteilt. Im Jahre 1936 kam es diesbezüglich zu einer giftigen verbalen Auseinandersetzung zwischen den beiden Assistenzärzten und Binswanger im und vor dem Assistenzarztbüro der Klinik, bei der Binswanger, der den Verleumdungsvorwurf bestritt, von Meier als «hinterhältiger und verlogener Charakter» tituliert und mit einigen weiteren deftigen Schimpfwörtern eingedeckt wurde [2]. Das Bezirksgericht Zürich sprach am 21.05.1937 den Assistenzarzt Wespi der Verleumdung und Dr. Meier der Beschimpfung schuldig und verurteilte sie zu unbedingten Geldstrafen. Beide wurden von Rechtsanwalt Karl Scherrer vertreten, der später in der Kampagne gegen Maier die treibende Kraft war. Im Berufungsverfahren vor Obergericht, mit einem neuen Verteidiger, bedauerte Dr. Wespi sein Fehlverhalten und Dr. Meier nahm seine beleidigenden Äusserungen zurück, worauf Binswanger seine Ehrverletzungsklagen zurücknahm. Die Gerichts- und Entschädigungskosten wurden aber den Assistenzärzten auferlegt.
Die Affäre kommt wie eine kleinliche Seldwylageschichte in den Räumen einer psychiatrischen Anstalt daher. Sie gewinnt aber an Bedeutung vor dem Hintergrund der gewichtigeren Affäre Maier.

Die Affäre Maier

Hans Wolfgang Maier kam am 26. Juli 1882 in Frankfurt am Main zur Welt [3]. Sein Vater Gustav Maier, als Verwalter der Reichsbank eine angesehene Persönlichkeit, war jüdischer Herkunft. Er stammte aus Ulm, wo er mit den Eltern von Albert Einstein eng befreundet war. Er trat aber zum christlichen Glauben über und siedelte um das fünfzigste Lebensjahr in die Schweiz. Hans Wolfgang Maier bestand 1900 in Zürich die Matura, wurde eingebürgert und absolvierte die Rekrutenschule.
Unter dem Einfluss des Familienfreundes Auguste Forel ergriff er das Medizinstudium, um Psychiater zu werden. 1912 wurde er im Burghölzli als Assistenzarzt angestellt und vier Jahre später vom Professor Eugen Bleuler zum Oberarzt befördert als Nachfolger von Carl Gustav Jung, der nach Auseinandersetzungen die Klinik verliess und eine Praxis eröffnete. 1927 wurde Maier als Nachfolger von Eugen Bleuler zum klinischen Direktor und zugleich zum ordentlichen Professor für Psychiatrie an der Universität Zürich gewählt.

Erfolgreiches Wirken als Burghölzlidirektor

Die Tätigkeit von Maier als Klinikdirektor, Lehrer und Forscher war von grossem innovativem Engagement und beeindruckender Effizienz gekennzeichnet. Er war ein Vorkämpfer für die Einführung psychiatrischer Gesichtspunkte im Strafrecht. Er legte die Grundlagen für die Erneuerungen zivilrechtlicher, versicherungsrechtlicher, unfallrechtlicher, wehrpsychologischer und sanitätsdienstlicher Methoden und Praktiken. Er schrieb ein Standardwerk über Kokainismus. Er gründete die Poliklinik für ambulante Behandlungen, förderte die Kinderpsychiatrie und setzte sich auch für die systematische Ausbildung des Personals und für die Installierung der Arbeitstherapie ein und schuf ein modernes, klinikinternes Labor [4]. Die erfolgreichen Neuerungen standen auf der ganzen Linie im Interesse und Dienst einer Humanisierung der psychiatrischen Behandlungsmethoden. In Kritik geriet Maier (wie auch seine Vorgänger August Forel und Eugen Bleuler) wegen seiner Haltung zur Frage der Kastration und Sterilisation aus psychiatrischer Indikation. In seiner Dissertation unter der Leitung von Bleuler hatte er noch die Zwangsterilisation aus prophylaktischen Gründen befürwortet. In vielen Stellungnahmen hat er sich aber später dezidiert gegen rigorose Massnahmen geäussert [3]. Rassenhygienische Motive dürften Maier als nach Rassengesetzen genetisch definierter Jude, dessen Verwandte in Deutschland Opfer des Holocaust geworden sind, fremd gewesen sein. Er rettete seinem jüdischen Onkel mütterlicherseits, Dr. iur. Max Friedländer (1873 bis 1956), deutscher Jurist und Wegbereiter des Anwaltsrechtes, nach der Kristallnacht 1938 durch Beschaffung eines Visums für die Schweiz das Leben. Und er verweigerte die Auslieferung des Krankendossiers des im Burghölzli dauerhospitalisierten, an Schizophrenie erkrankten Sohnes von Albert Einstein an die Nazis, die ihn als ein Paradebeispiel für die jüdische Degeneration benutzen wollten. Er unterlief diese Absicht auch, indem er vorgab, die genetische Schizophrenieanlage stamme aus der nicht jüdischen mütterlichen Linie.

Geheime amouröse Beziehung zu einer Patientin

Im Jahre 1932 ging Maier eine geheime amouröse Beziehung mit Sigrid Studer ein, die ihm einige Jahre später zum Verhängnis wurde und seinen Sturz herbeiführte. Der Fakultätskollege, der international angesehene Gerichtsmediziner Professor Zangger, bat ihn darum, sich einer von ihm betreuten Volontärin einer chirurgischen Abteilung anzunehmen, die Mühe bekundete, an einer Zürcher Privatschule die Matura zu absolvieren, und sich durch distanzlos-aufdringlich erotisierendes Verhalten in seiner Familie und bei Assistenten unangenehm bemerkbar gemacht habe. Inwiefern sie formal einen Patientinnenstatus hatte, war später im Untersuchungsverfahren umstritten. Sie war die Tochter des prominenten sozialdemokratischen Politikers und Juristen Fritz Studer, der ab 1932 Bundesrichter in Lausanne war. Maier willigte ein und beschäftige sie zeitweise im Sekretariat der Poliklinik. Über circa acht Jahre gelang es ihm, damals in zweiter Ehe verheiratet und Vater von drei erwachsenen Söhnen aus der ersten 1915 geschiedenen Ehe, eine geheime Liebesbeziehung zu führen. Diese wurde 1939 bekannt, als die Geliebte schwanger wurde, am 13. Februar 1939 eine Tochter gebar und einen aufsehenerregenden Vaterschaftsprozess anstrengte, bei welchem Maier erst nach langem Bestreiten vor dem Bezirksgericht die Klage anerkannte. Das Bekanntwerden der intimen Beziehung von Maier zu einer ihm zur Behandlung anvertrauten Patientin brachte ihn in ein moralisches Zwielicht und löste Rücktrittsforderungen gegen ihn aus. Nach Aussage von Oberarzt Dr. Briner, später langjähriger Chefarzt der Psychiatrischen Klinik Rosegg, soll Sigrid Studer demonstrativ mit dem Neugeborenen im Kinderwagen vor dem Burghölzli hin und her spaziert sein, um den Vater in Verlegenheit zu bringen [5]. Nach Aussagen von Maiers Schwiegertochter sollen Assistenzärzte der Klinik eine Petition mit Rücktrittsforderungen an die Regierung gerichtet haben [6]. Maier verlangte eine Disziplinaruntersuchung gegen sich selbst, die vom Regierungsrat mit Beschluss vom 16.01.1941 eingeleitet und drei Oberrichtern mit dem Auftrag übertragen wurde, «den Tatbestand mit Bezug auf das Verhältnis von Professor Maier zu Sigrid festzustellen und diesen gutachterlich zu beurteilen auch im Hinblick auf Maiers öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse» [7]. Die Affäre eskalierte nach einem Zirkularschreiben, das Scherrer, der Rechtsvertreter von Wespi und Meier vor dem Bezirksgericht am 10. Mai 1941, im Namen eines «Aktionskomitees» an alle Kantonsräte mit der Aufforderung adressiert hatte, das Absetzverfahren gegen Maier zu beschleunigen, da dieser eine Dienstpflichtverletzung bestritt und deshalb der Aufforderung der Erziehungsdirektion zu einem freiwilligen Rücktritt keine Folge geleistet hatte. Die Untersuchungskommission verneinte einen strafbaren Tatbestand und stufte allfällige Disziplinarvergehen als verjährt ein. Sie hielt die Voraussetzungen eines Antrages auf administrative Entlassung als nicht gegeben, obwohl sie das Vertrauen in Professor Maier als erschüttert und seine Verfehlungen als schwerwiegend einstufte. Dieser reichte jedoch unverzüglich sein Rücktrittsgesuch als Anstaltsdirektor und Ordinarius ein [8].
Der im gesellschaftlichen Leben gut integrierte Maier hatte während der laufenden Kampagne von zahlreichen Persönlichkeiten solidarische Unterstützung erfahren, z.B. auch von Dr. Forel der Klinik Prangins (Sohn von Auguste Forel) und vom angesehenen Internisten Professor Löffler von der Medizinischen Fakultät.

Hetzschrift gegen den zurückgetretenen Professor

Mit dem Rücktritt von Maier waren aber die Anfeindungen gegen ihn nicht beendet. Der Rechtsanwalt Scherrer verfasste im Namen des sogenannten «Aktionskomitees», dessen Mitglieder anonym waren und bis heute nicht identifiziert werden konnten, eine Hetzschrift mit dem Titel «Der Fall Prof. Dr. Hans W. Maier», die er in tausenden Exemplaren verschickte. Anstoss dazu waren Versuche von Kollegen, dem zurückgetretenen Maier die Ehrenmitgliedschaft der Psychiatrischen Gesellschaft Schweiz zu verleihen, ferner der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich, ihn zum Honorarprofessor zu ernennen und vor allem die Beauftragung durch die Erziehungsdirektion mit mehreren Vorlesungen über forensische Psychiatrie [9]. In dieser Broschüre, die als «pathetischer-patriotischer Aufruf! an das Schweizerfolk» aufgemacht ist, wurde die ganze Affäre ausführlich dargestellt und Maiers ehebrecherisches Verhalten durch Publikation eines Berichtes von Sigrid Studer an Regierungsrat Kägi und von zahlreichen Briefen, Karten und Telegrammen von Professor Maier an sie in den Jahren 1931 bis 1938 offengelegt. In einem von Maier angestrengten Ehrverletzungsprozess wurde Scherrer 1944 vom Bezirksgericht und Obergericht Zürich die Weiterverbreitung seiner Beschwerde verboten. Die ominöse Schrift ist aber auch heute noch in vielen Bibliotheken vorhanden.

Antisemitische Hintergründe

Arnold [3] äusserte im Nachwort seiner umfassenden Literaturrecherche die Ansicht, dass die Entdeckung der Liebesbeziehung zu einer ehemaligen Patientin nicht der einzige Grund des Rücktrittes von Professor Maier gewesen sein dürfte. Verschiedene Zeitzeugen, welche die Vorgänge aus der Nähe erlebten, äusserten zum Teil apodiktisch und zweifelsfrei die Meinung, dass eine antisemitische Einstellung die Triebkraft der Feindseligkeiten und heftigen Kampagnen gegen Binswanger und Maier gewesen seien. Laut Müller [1] wurden anfänglich Binswanger Charakterfehler und Unstimmigkeiten vorgeworfen. Antisemitismus habe noch keine Rolle gespielt, hätten doch jüdische Assistenzärzte ihn am heftigsten kritisiert (Dr. Weil und Frau Brent). Später seien dann aber einige Assistenzärzte im Verdacht gestanden, den Frontisten nahe zu stehen [10]. Die Schwiegertochter von Maier soll ihrer Tochter öfters von einer «Art Nazi-Aktion» von Assistenzärzten und eventuell Studenten gesprochen haben, die 120 Unterschriften an die Regierung geschickt hätten. Diese, eine Schwester der renommierten Kinderpsychiaterin Marie Meierhofer, habe einen Sohn von Maier «trotz, ja sogar wegen des vorherrschenden Antisemitismus» im Oktober 1938 geheiratet [11]. Auch ein Enkel von Binswanger erinnert sich, dass in seiner Familie der Grossvater als Opfer einer antisemitischen Kampagne gegolten habe. Dass solche Verdächtigungen aufkamen, geht indirekt auch daraus hervor, dass Scherrer sich in seiner Hetzbroschüre ausdrücklich gegen antisemitische Motive wehrte und solche in Abrede stellte.
Aktuelle Recherchen in historischen Archiven [12] konnten keine Mitgliedschaft von Assistenzärzten, insbesondere von Meier und Wespi bei den Frontisten oder Beteiligung an deren Aktivitäten, entdecken. Hingegen gab es verschiedene deutliche Hinweise und Belege für antisemitische und naziaffine Tendenzen, die in den Affären Binswanger und Maier von Bedeutung sein könnten. So war Scherrer der Wunschverteidiger des Medizinstudenten Jost Brun, Jahrgang 1918, Mitglied des Nationalsozialistischen Studentenbundes und der Eidgenössischen Sammlung in einem Verfahren gegen nationalsozialistische Aktivisten, die 1941 verhaftet und (erst) 1944 vom Bundesstrafgericht verurteilt wurden. Scherrer verteidigte ausserdem im Juni 1941 verschiedene Angeschuldigte der Nationalen Bewegung. Wegen Verletzung des Anwaltsgeheimnisses wurde er jedoch in allen Verfahren als Verteidiger vom Bundesgericht abgelehnt [13, 14].
Ein möglicher Bezug zu antisemitischem Gedankengut ist auch in der Person des Assistenzarztes Meier zu erkennen, dem späteren Psychologieprofessor an der ETH, der von 1930 bis 1936 Assistenzarzt im Burghölzli war, schon damals als engster Mitarbeiter von Jung wirkte und ab 1936 als Jungscher Analytiker praktizierte. Jung hatte in Deutschland den Vorsitz der gleichgeschalteten Überstaatlichen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie übernommen, nachdem Ernst Kretschmer aus Protest gegen die Einmischung der Nazis zurückgetreten war [15]. Jung machte aus seiner antisemitischen Haltung und Befürwortung arischen Gedankengutes keinen Hehl. So publizierte er im Zentralblatt für Psychotherapie im Aufsatz «Zur gegenwärtigen Lage der Psychotherapie» eine Kritik der «arischen» Seelenkunde an der dekadenten jüdischen Psychoanalyse [16]:
«Das arische Unbewusste… enthält Spannkräfte und schöpferische Keime von noch zu erfüllender Zukunft, die man nicht ohne seelische Gefährdung als Kinderstubenromantik entwerten darf… Die jüdische Rasse als Ganzes besitzt … nach meiner Erfahrung ein Unbewusstes, das sich mit dem arischen nur bedingt vergleichen lässt. Abgesehen von gewissen schöpferischen Individuen ist der Durchschnittsjude schon viel zu bewusst und differenziert, um noch mit den Spannungen einer ungeborenen Zukunft schwanger zu gehen. Das arische Unbewusste hat ein höheres Potential als das jüdische; das ist der Vorteil und der Nachteil einer dem Barbarischen noch nicht völlig entfremdeten Jugendlichkeit. Meines Erachtens ist es ein schwerer Fehler der bisherigen medizinischen Psychologie gewesen, dass sie jüdische Kategorien, die nicht einmal für alle Juden verbindlich sind, unbesehen auf den christlichen Germanen oder Slawen verwandte. Damit hat sie nämlich das kostbarste Geheimnis des germanischen Menschen, seinen schöpferisch ahnungsvollen Seelengrund als kindisch-banalen Sumpf erklärt, während meine warnende Stimme durch Jahrzehnte des Antisemitismus verdächtigt wurde. Diese Verdächtigung ist von Freud ausgegangen. Er kannte die germanische Seele nicht, so wenig wie alle seine germanischen Nachbeter sie kannten. Hat sie die gewaltige Erscheinung des Nationalsozialismus, auf die eine ganze Welt mit erstaunten Augen blickt, eines Besseren belehrt? Wo war die unerhörte Spannung und Wucht, als es noch keinen Nationalsozialismus gab? Sie lag verborgen in der germanischen Seele, in jenem tiefen Grund, der alles andere ist als der Kehrichtkübel unerfüllbarer Kinderwünsche und unerledigter Familienressentiments».
Jung regte in seiner Feindschaft gegen die «jüdische» Psychoanalyse deren Verbot in Deutschland an. Er schrieb in einem Brief an Wolfgang Kranefeldt [17]:
«Gegen die Dummheit kann man bekanntlich nichts tun, aber in diesem Falle können die arischen Leute darauf hinweisen, dass mit Freud und Adler spezifisch jüdische Gesichtspunkte öffentlich gepredigt werden, und zwar, wie man ebenfalls nachweisen kann, Gesichtspunkte, welche einen wesentlich zersetzenden Charakter haben. Wenn die Verkündigung dieses jüdischen Evangeliums der Regierung angenehm ist, so ist es halt eben so. Andernfalls ist ja auch die Möglichkeit vorhanden, dass dies der Regierung nicht angenehm wäre…»
Nicht weniger bedenkenlos legte der führende Schweizer Psychiater Jakob Klaesi (1883–1980) seine Unterstützung judenfeindlicher und nationalsozialistischer Anliegen offen. Als im Oktober 1935 ein Münchner Kollege ihn um die Vermittlung einer Stelle für den von Nazis verfolgten jüdischen Kollegen Franz Josef Kallmann bat, antwortete er: «… Ich bin mit dem Geist der Nürnberger Gesetze sehr einverstanden und wollte gerne, sie würden bei uns auch mehr beachtet» [18]. Auf eine Anfrage des nationalsozialistisch gesinnten Schweizer Psychiaters Ernst Rüdi, ob der Berner Privatdozent Stavros Zurukzoglu jüdischer Abstammung sei, antwortete Klaesi, dass dies nicht zutreffe, dieser aber Kontakte zu den jüdischen Wissenschaftlern Binswanger und Maier pflege, worauf Rüdi diesem eine Zusammenarbeit verweigerte [19].
Der Verdacht, dass antisemitische Motive und Triebkräfte wegleitend für die erfolgreichen Absetzungskampagnen gegen Binswanger und Maier gewesen sein könnten, ist auch vor dem Hintergrund der politisch geladenen Vorkriegssituation mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland und Spanien zu betrachten, der antisemitischen Tendenzen Auftrieb gegeben hat und geeignet war, zu offenen und getarnten Aktionen zu ermutigen. Während im Hintergrund der Bühne, auf der sich die Affären Binswanger und Maier abspielten, manifeste antisemitische Einstellungen zu erkennen sind, sind handfeste Beweise für eine antisemitische Begründung der Kampagnen gegen die beiden Psychiater-Persönlichkeiten nicht aufzufinden. Es gibt keine explizit antisemitischen Äusserungen der Assistenzärzte und der involvierten Behörden in diesem Zusammenhang. Von Müller wurde die Vermutung angedeutet, dass bei Maier und Binswanger deren sowohl deutsche als auch jüdische Herkunft Ressentiments und Antipathien ausgelöst hätten. Im Fokus der Kritik standen einige als unvorteilhaft empfundene Charakterzüge und Umgangsformen von Maier und Binswanger sowie Unstimmigkeiten im Klinikalltag von der Art, wie sie auch heute in vielen Institutionen vorkommen, ohne dass dadurch ein heftiger Kampagnensturm entfacht werden würde. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass schon beim Wahlverfahren zur Regelung der Nachfolge von Professor Bleuler die Medizinische Fakultät charakterliche Mängel («unzugänglich») und wissenschaftliche Mittelmässigkeit von Professor Maier beanstandet hatte, dieser dann aber gegen deren Willen aufgrund seiner langjährigen Erfahrung als tüchtiger und in der Klinik überaus beliebter Oberarzt von der Regierung gewählt wurde. Die Beliebtheit von Maier kam auch nach seinem Rücktritt in einem vom gesamten Klinikpersonal ihm gewidmeten und unterzeichneten Album zum Ausdruck, in welchem seine Verdienste und seine Persönlichkeit aufs Höchste gelobt wurden. Die heimliche Intimität zu einer Patientin würde auch heute moralisch und sogar strafrechtlich verurteilt und eventuell mit einem Berufsverbot belegt. Dass aber nicht immer der gleiche Massstab angelegt wurde, zeigt, worauf auch Arnold hinweist, dass Jung, der sich in eine Liebesbeziehung mit Sabine Spielrein verstrickte, sogar von Freud, der die Abstinenz in der Kur verlangte, geschützt wurde [20].

Latenter Antisemitismus

Es bleibt also die Frage, ob die Affären Binswanger und Maier Ausdruck eines zielgerichteten antisemitischen Programmes oder Manifestationen einer latenten antisemitischen Hassatmosphäre waren. Der Wolf des manifesten Antisemitismus tritt oft im Schafspelz des latenten Antisemitismus in Erscheinung, der hinter vorgehaltener Hand auf breiter Front lächelnd Diskriminierungserfolge feiert. Antisemitische Ablehnung wird getarnt durch vorgeschobene Stellvertretervorwürfe. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass bis vor wenigen Jahren an der Universität Zürich, wie auch in vielen anderen Institutionen wie Zunfthäuser, Ruderclubs etc. die jüdische Abstammung und Religion (übrigens auch die katholische Konfession) ein zwar nicht gesetzlich oder anderswie geregelter, aber faktischer Hinderungsgrund für eine Berufung und Aufnahme war. Die Durchschlagskraft des latenten Antisemitismus zeigt sich, neben der reichlich verspäteten vertiefenden Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen, auch darin, dass nach dem Niedergang des Nationalsozialismus Psychiater-Persönlichkeiten wie Jung, Klaesi und andere mit Ehrenbezeugungen überhäuft wurden, während der unbestritten verdienstvolle Psychiater Maier auf dem Ehrenparkett leer ausging und zur Persona non grata wurde. Dass im Archiv der Klinik Dokumente zu den Affären nicht auffindbar sind, gibt zur Vermutung Anlass, dass über die Angelegenheit der Mantel des Schweigens gelegt werden sollte.
PD Dr. med. Mario Gmür
FMH Psychiatrie und Psychotherapie,
Zürich
Der Autor hat deklariert, keine potenziellen Interessenskonflikte zu haben.
PD Dr. med. Mario Gmür
FMH Psychiatrie und Psychotherapie
Seefeldstrasse 27
CH-8008 Zürich
mario_gmuer[at]bluewin.ch
1 Müller M. Erinnerungen. Berlin, Heidelberg: Springer; 1982. S. 299.
2 Urt. Bezirksgericht Zürich, 21.5. 1937, Prozess No.418/1937, S. 3., schriftliches Urteil, einsehbar im Staatsarchiv und Archiv für Zeitgeschichte.
3 Arnold C. Der Psychiater Hans Wolfgang Maier. Dietikon: Juris Druck und Verlag; 1992.
4 Bleuler M. Geschichte des Burghölzlis und der Psychiatrischen Universitätsklinik. Zürich: Regierungsrat d. Kantons Zürich; 1951. S. 420.
5 Arnold C. Der Psychiater Hans Wolfgang Maier. Dietikon: Juris Druck und Verlag; 1992. S. 3.
6 Mündliche Mitteilung von Trix Maier an den Autor 2022.
7 Regierungsratsbeschluss vom 16.1.1941. Staatsarchiv Signatur StAZH MM 3.62 RRB 1941/0126. S. 1.
8 Regierungsratsbeschluss vom 12.06.1941. Staatsarchiv Signatur StAZH MM 3.62 RRB 1941/1533. S. 1–3.
9 Scherrer K. «Der» Fall Prof. Dr. Hans Wolfgang Maier, alt Direktor des Burghölzli Zürich. Verlag nicht ermittelbar; 1942. S. 36.
10 Arnold C. Der Psychiater Hans Wolfgang Maier. Dietikon: Juris Druck und Verlag; 1992. S. 31.
11 Mündliche Mitteilung von Trix Maier an den Autor 2022.
12 EDI, Schweizerisches Bundesarchiv BAR, Staatsarchiv des Kantons Zürich, ETH Zürich, Archiv für Zeitgeschichte, Archiv des Schweizerischen Bundesgerichtes in Lausanne.
13 Schreiben der Schweizerischen Bundesanwaltschaft an die Anklagekammer des Bundesgerichtes vom 30.09.1943. Archiv Bundesgericht, Nr. C2.10025/4/Vo 1.
14 Eintrag auf der Fiche von Scherrer. Schweizer Bundesarchiv BAR Akteneintrag 7.10.43.
15 Gmür M. Die Unfähigkeit zu zweifeln: Welche Überzeugungen wir haben und wann sie pathologisch werden. Stuttgart: Klett-Cotta; 2006. S. 195.
16 Jung CG. Zur gegenwärtigen Lage der Psychotherapie. Zentralblatt für Psychotherapie und ihre Grenzgebiete einschliesslich der medizinischen Psychologie und psychischen Hygiene. 1934;7(1–2):1–16.
17 Jung CG. (1934). Brief an Wolfgang Kranefeldt vom 9.2.1934. Int Rev of Psy 1977(4); S. 377.
18 Florian Mildenberger: Auf der Spur des «scientific pursuit». Franz Josef Kallmann (1897 bis 1965) und die rassenhygienische Forschung. In: Medizinhistorisches Journal. Bd. 37 (2002), H. 2, S. 183–200, hier S. 190f.
19 GDA: 132, Korrespondenz Klaesi-Rüdin-Zurukzoglu. In: Weber MM. Ernst Rüdin. Eine kritische Biographie. Berlin: Springer; 1993. S. 230.
20 Arnold C. Der Psychiater Hans Wolfgang Maier. Dietikon: Juris Druck und Verlag; 1992, S. 3