Und sie bewegt sich doch. Aber bewegt sie sich vorwärts?

Editorial
Issue
2023/01
DOI:
https://doi.org/10.4414/sanp.2023.03374
Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2023;173:w03374

Published on 15.02.2023

Zum Positionspapier der Stiftung Pro Mente Sana zur Umsetzung der Fürsorgerischen Unterbringung.

Eigentlich sollte dieses Editorial einmal mehr die Vitalität, die Dynamik der gegenwärtigen Psychiatrie unterstreichen, ihren derzeitigen wissenschaftlichen Schwung, ihre institutionelle Innovationskraft. Es sollte ein schulterklopfender Leitartikel werden, der aufzeigt, wie sehr sich die Psychiatrie und insbesondere die Schweizer Psychiatrie in den letzten Jahren modernisiert hat, wie mutig sich Forschung und Institutionen den derzeitigen und den in naher Zukunft zu erwartenden Herausforderungen stellt. Der vorgesehene Titel sollte das berühmte Zitat von Galileo Galilei wiedergeben: Und sie bewegt sich doch (die psychiatrische Welt)!
Prof. Dr. med. Daniele Zullino
Und dann holt uns das jüngste Positionspapier der Stiftung Pro Mente Sana, «Rechtebasierte Umsetzung der Fürsorgerischen Unterbringungen» (abrufbar auf https://promentesana.ch/ueber-uns/aktuelles/medienmitteilungen/qualitative-verbesserung-der-praxis-bei-zwangseinweisungen-gefordert), aus der narzisstischen Nabelschau zurück in die gesellschaftliche Realität. In diesem von der Schweizer Presse breit aufgenommenen Dokument wird einmal mehr auf die unbefriedigend hohe Zahl an jährlichen Fürsorgerischen Unterbringungen (FU) in der Schweiz verwiesen (16 000 für das Jahr 2020). Hiermit erfolgt ca. ein Fünftel der Psychiatrie-Einweisungen gegen den Willen der eingewiesenen Personen. Mit einem Wert von 1,8 Zwangseinweisungen pro 1000 Einwohner gehört die Schweiz im internationalen Vergleich zu den Ländern mit den höchsten Zwangseinweisungsquoten. Die grosse interkantonale Varianz der FU-Raten weisen zudem darauf hin, dass Patienten-unabhängige Faktoren eine entscheidende Rolle spielen. Hierbei scheinen insbesondere städtische Kantone und solche, die auch Nicht-Psychiatern ermöglichen, FUn anzuordnen, zu höheren Raten zu tendieren. Das Risiko einer freiheitsberaubenden Zwangsmassnahme ist somit bedingt durch Merkmale der regionalen Gesundheitsversorgung, Zahl und Qualifikation der FU-Verfügungsberechtigten und insbesondere deren Haltung zu Zwangsmassnahmen.
An diesem Punkt muss sich die Psychiatrie die Frage stellen, ob sie sich mit dem in den letzten Jahren nachweislich Erbrachten wirklich weiterentwickelt, oder gesellschaftlich gesehen eigentlich nur im Kreis bewegt hat.
Die Stiftung Pro Mente Sana stellt in ihrem Positionspapier fünf Forderungen, die helfen sollen, das Problem der unangebrachten FUn einzuschränken: So wird für Fachpersonen, die eine FU veranlassen können, eine spezifische Qualifizierung gefordert, zudem eine bessere Aufklärung und Anhörung der Betroffenen und zwingend eine Nachbesprechung mit einweisender Fachperson, interprofessionellem Behandlungsteam und der/dem Patient:in. Es ist prima facie nichts gegen diese Forderungen einzuwenden. Sie zielen alle auf eine besser geregelte Anwendung der FU ab, und darauf, dass dies mit einer «fürsorgerischen» Haltung umgesetzt wird. Ist dies allerdings ein probates Mittel um das Problem einzudämmen? Aus einem bestimmten Grund eher nicht. Wäre das Ziel, tatsächlich, «formal gute Fürsorgerische Unterbringungen» zu fördern, wären diese Forderungen absolut opportun. Dies kann allerdings, angesichts der vorliegenden Daten nur ein sekundäres Ziel sein. Das eigentliche Ziel muss die Prävention unangebrachter FUn sein. Der Key Performance Indicator ist eben nicht die gut angeordnete FU, sondern die nicht angeordnete unangebrachte FU, diese ist prioritär!
Gemäss dem Wirtschaftswissenschafter H. Thomas Johnson ist «das, was man misst, (ist) das, was man bekommt» und gar ist «das, was man misst, alles, was man bekommt, und was man nicht misst, verloren». Übersetzt auf unsere Problematik heisst dies: Was geregelt und gemessen wird, wird Anreize, Verhaltensweisen und Ergebnisse beeinflussen. Wird also eine formal bessere FU-Anordnung gefördert und gemessen, wird schlussendlich genau das erreicht werden. Pro Mente Sana hebt in ihrem Dokument hervor, dass bei einem Grossteil der Anordnungen einer FU die Alternativen nicht ausgeschöpft worden sind, obwohl das Gesetz vorsieht, sie nur als ultima einzusetzen.
Im Positionspapier der Deutschschweizer Sektion der Schweizerischen Gesellschaft für Sozialpsychiatrie «Mit Begegnung gegen Zwang» wird im Vergleich zu den Forderungen von Pro Mente Sana eher eine Vermeidung von FU angestrebt, indem gefordert wird, dass insbesondere das Prinzip «ambulant vor stationär» mit politischem Nachdruck verfolgt und ambulant-aufsuchende Kriseninterventionsteams gefördert werden sollen. Gemäss diesem Positionspapier stehen die Kantone in der Pflicht, ihre psychiatrischen Dienste mit sozialpsychiatrischen Unterstützungsangeboten zu ergänzen.
Auch an diesen Forderungen ist an und für sich nichts auszusetzten. Und dennoch: Was werden alternative Versorgungsangebote nützen, wenn man sie nicht nutzt? Solange die «korrekte» Anordnung der FU geregelt wird, werden «korrekte» Anordnungen gefördert werden. Erst wenn der Fokus auf die Förderung alternativer Massnahmen gelenkt wird, kann auch eine signifikante Reduktion der FU erwartet werden. Was bräuchte es hierzu? In erster Linie eine obligatorische Dokumentation der versuchten alternativen Massnahmen zur FU, mit der Beweislast beim potentiell die FU anordnenden Arzt. Die Suche nach Alternativen sollte als Erstes reglementiert und gemessen werden, und erst sekundär die «fürsorgerische» Anwendung der FU.
Ja, die Psychiatrie bewegt sich doch, und das vorliegende Heft darf einmal mehr Beweis für die Breite und die Dynamik des Faches sein. Eine Psychiatrie, die sich fortschrittlich im wahrsten Sinne des Begriffes nennen möchte, darf allerdings ihre gesellschaftliche Rolle nicht vergessen. Dies bedeutet nicht nur, gesellschaftliche Aufträge entgegenzunehmen, sondern sie auch mitzugestalten. Es bedeutet auch, gesellschaftlich bedingte strukturelle Probleme nicht einfach hinzunehmen, sondern sich gelegentlich diesbezüglich zu empören, und schliesslich weiterzuentwickeln! Auf alle Fälle besten Dank, Pro Mente Sana und Schweizerische Gesellschaft für Sozialpsychiatrie, für die Empörung. Und besten Dank den Kolleginnen und Kollegen, die diese Empörung ernst nehmen.