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Let’s talk about: Suizidalität und Selbstverletzung – ein Tabubruch

News
Issue
2023/03
DOI:
https://doi.org/10.4414/sanp.2023.03372
Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2023;174(03):71

Affiliations
1 Name der Redaktion bekannt

Published on 14.06.2023

Dies ist einer der härtesten und schwierigsten Artikel, den ich wahrscheinlich je schreiben werde. Doch der Tod einer guten Freundin hat mich dazu veranlasst. Es geht um ein Thema, das mir einerseits sehr unangenehm ist, mir aber dennoch sehr am Herzen liegt. Ich möchte euch Einblicke in das Leben von Patient:innen mit dissoziativer Identitätsstörung (DIS) geben – dazu gehören leider auch unangenehme Dinge. Auf diese Weise kann ich auch diese Ereignisse irgendwie verdauen, etwas, womit ich bis heute kämpfe. Das Thema Suizidalität und Selbstverletzung bei DIS-Patient:innen scheint immer noch ein Tabuthema zu sein. Es ist generell ein Tabu, aber es ist wichtig, darüber zu sprechen! Heute werde ich darüber aus einer persönlichen Sichtweise schreiben. Das wird für einige von euch abschreckend sein – was ich verstehen kann. Wenn ihr labil seid, euch unwohl fühlt oder den Drang habt, euch etwas anzutun, a) holt euch Hilfe und b) lest diesen Text bitte nicht! Ich werde absichtlich KEINE Details über meine Selbstmordversuche oder meine Selbstverletzungen erzählen. Ich möchte nicht, dass mich jemand nachahmt – es ist also zu eurem (und auch meinem) Schutz!
Ich weiss aus eigener Erfahrung, dass man schnell in eine Negativspirale geraten kann – so habe ich leider schon sechs Selbstmordversuche hinter mir. Alle «unbewusst». Ich kann mich einfach nicht daran erinnern. In meinem System sind es Arnold oder Toby, die sich selbst verletzen, weil a) Arnold das Gefühl hat, die Welt bestehe nur aus Leben und Tod und b) Toby sich für eigentlich ganz banale Dinge bestrafen will. Es passiert mit unterschiedlicher Häufigkeit, auf unterschiedliche Art und Weise und durch unterschiedliche Auslöser. Bis heute bin ich nicht in der Lage, Arnold oder Toby komplett zu kontrollieren und damit Selbstverletzungen zu verhindern – leider! Diese unbewussten Selbstverletzungen führen zu häufigen Arztbesuchen und Krankenhausaufenthalten. Nicht selten muss ich sogar zum Selbstschutz in geschlossene Einrichtungen bis hin zur Isolationen eingewiesen werden. Dies ist oft nicht freiwillig! So wurde ich auch schon ein paar Mal mit einer Verfügung (fürsorgerischen Unterbringung, FU) eingewiesen. Zum Glück, muss ich sagen, wurde ich nicht zwangsmediziert - das wäre noch schlimmer! Dazu kommt noch die soziale Verachtung - jeder hat das Gefühl, dass ich das absichtlich gemacht hätte. Das ist meist die erste Frage, die mir in der Notaufnahme oder auf der Intensivstation gestellt wird – und schon wird man in eine Schublade gesteckt. Ich persönlich fühle mich jedes Mal sehr unwohl, wenn sich medizinisches Fachpersonal um mich kümmern muss für etwas, das nicht passieren sollte. Ich mache mir Vorwürfe, dass ich ihnen (und meinen Angehörigen) das zumute. Ich weiß, dass ich es nicht ändern kann. Ich bin mir dessen auch bewusst, aber ich bin trotzdem schockiert. Ich weiß, was auf mich zukommt – psychiatrische Klinik für ein paar Wochen und eine ganze Ladung sedierender und antipsychotischer Medikamente. Ob das nun richtig ist oder nicht, lasse ich mal dahingestellt – das sollen die Expert:innen beurteilen.
Sichtbar bleiben die Narben, die ich verursacht habe – sie erinnern mich daran, dass es mir auch schlechter gehen kann. Ich schäme mich nicht dafür, sie sind ein Teil von mir geworden. Trotzdem könnten manche Leute ein bisschen weniger starren – das wäre toll.
«And my scars remind me; that the past is real…» [1]
Eine Studie [2] ergab, dass 60% bis 80% der DIS-Patient:innen von Suizidversuchen berichteten; 78% berichteten von nichtsuizidalem selbstzerstörerischem Verhalten, was auch meine Erfahrung widerspiegelt. DIS-Patient:innen sind meist schwer traumatisiert und können Persönlichkeitsanteile («Persönlichkeiten») entwickeln, die die Personen repräsentieren, die für die traumatischen Ereignisse verantwortlich waren. Ich verstehe das so, dass man die Bestrafung (oder was auch immer) soweit verinnerlicht hat, dass man unbewusst das Wirken dieser Personen fortsetzt. Nach dem Motto: «Wenn ich nicht bestraft werde, muss ich mich selbst bestrafen.»
Ich bin mir ziemlich sicher, dass jede:r DIS-Patient:in, der:die sich unbewusst selbst verletzt, es im Nachhinein bereut. Wie ich bereits erwähnt habe, schmerzen die sichtbaren Narben nicht nur im jeweiligen Moment, sondern beeinflussen oft auch soziale Interaktionen. In meinem Fall kann ich im Sommer nicht mit kurzen Hosen und T-Shirt einkaufen gehen, ohne dass die Leute auf meine Arme und Beine starren. Warum macht ihr kein Foto? Selbstmord und Selbstverletzung sind immer noch ein Tabuthema – niemand will darüber reden. Ich glaube, wenn wir darüber sachlich diskutieren, könnten wir erreichen, dass die Gesellschaft das Leiden von DIS-Patient:innen besser versteht. (Anmerkung: Das gilt natürlich nicht nur für DIS-Patient:innen, sondern auch für Patient:innen mit anderen Erkrankungen). Ich weiß, das war jetzt ein schwieriger Text – dennoch hoffe ich, euch die Notlage von DIS-Patient:innen ein wenig näher gebracht zu haben.
1 Shaddix J. Scars. Getting Away with Murder (CD). Geffen; 2004.
2 Loewenstein RJ. Dissociation debates: everything you know is wrong. Dialogues Clin Neurosci. 2018;20(3):229–242.