Anmerkungen zur Geschichte der schweizerischen Kinderpsychiatrie

«Gemeinsam und doch anders»: eine kollektive Subjektwerdung

Review Article
Issue
2023/03
DOI:
https://doi.org/10.4414/sanp.2023.03369
Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2023;174(03):72-75

Published on 14.06.2023

Summary

Child psychiatry is the child of various parents: psychiatry and neurology, paediatrics and (curative) education, psychoanalysis and psychology are no less to be found in its family tree than social sciences and anthropology. A particularly important role played the separation from the big sister, adult psychiatry. This process corresponded to an actual collective subjectification – a process that we encounter every day in our clinical and therapeutic work in its individual form. In this article, some stages of this history are reported.
Keywords: history of child psychiatry; relation to adult psychiatry; social psychiatry

Die gemeinsame Wegstrecke von Psychiatrie und entstehender Kinder-Psychiatrie

Gemeinhin wird Rousseaus Erziehungsroman «Emile» von 1790 als Eröffnung des pädagogischen Zeitalters angesehen [1]. Bald schon tauchen erste «Patienten-Prototypen» in der Literatur auf, so z.B. Jean-Gaspard Itards «Enfant sauvage» von Aveyron [2]. Das in diesem Buch beschriebene Findelkind Victor kam um 1800 herum als wohl erstes Kind in den Genuss von Itards «traitement moral», einem Vorläufer der Psychotherapie. Heinrich Hoffmann, von Haus aus «Irrenarzt» und Pionier einer modernen Versorgungpraxis psychisch kranker Menschen, verfasste und zeichnete auf Weihnachten 1844 für seine Kinder ein Kinderbuch, den «Struwwelpeter», den wir ohne Übertreibung als eine Art volkstümliche Psychopathologie des Kindesalters bezeichnen können – ohne die damals weitherum vertretenen und im Buch dargestellten schwarz-pädagogischen Interventionen propagieren zu wollen. Die vorgestellten Protagonisten sind unter anderem der «Zappelphilipp», der verträumte «Hanns Guck-in-die-Luft», der «Böse Friederich» und der essenverweigernde «Suppenkasper» [3].
1887 erschien erstmals eine deutschsprachige, wissenschaftliche Psychopathologie des Kindesalters, Hermann Emminghaus‘ «Psychische Störungen der Kindheit» [4]. Freuds «Kleiner Hans» von 1909 («Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben») schliesslich darf gewiss als Eröffnung der psychoanalytischen Psychotherapie von Kindern gewertet werden, beziehungsweise gleichzeitig als Frühform einer familientherapeutischen Intervention, da der Vater des kleinen Hans unter der Anleitung Freuds therapeutisch intervenierte. Anna Freud fundierte dann definitiv die kinderpsychoanalytische Arbeit 1927 mit ihrer «Einführung in die Technik der Kinderanalyse».
Weit entfernt in der Neuen Welt begründete Adolf Meyer (1866-1950), ein aus dem Kanton Zürich stammender Schweizer Psychiater, mit seinen «Child Guidance Clinics» ab 1909 die ambulant entstehende Kinderpsychiatrie. Ein Ansatz, der dann von André Repond (1886–1973) ab 1930 im Wallis aufgenommen wurde (Service-médico pédagogique valaisan), auf der Grundlage von psychohygienischen und psychoanalytischen Ansätzen. Erstmals in den USA verwendete 1843 der US-amerikanische Mediziner William Sweetzer den Ausdruck «mental hygiene». Die deutsche Bezeichnung «Psychohygiene» wurde im Jahre 1900 von dem deutschen Psychiater Robert Sommer (1864–1937) verwendet, der 1896 die Psychiatrische Klinik Gießen begründet hatte. Allerdings erlangte die Bezeichnung erst durch die Bemühungen von Clifford Whittingham Beers die Situation von psychisch Kranken zu verbessern eine grössere Bekanntheit. Heinrich Meng, der 1929 zu den Mitbegründern des Frankfurter Psychoanalytischen Instituts / Sigmund-Freud-Institut gehörte, folgte nach der Auflösung des Instituts im Jahr 1933 dem Angebot einer Schweizer Erziehungsinstitution nach Basel, um dort auf den Gebieten der Pädagogik und Psychohygiene seine Lehren weiterzuentwickeln. Schon nach vier Jahren erhielt er einen Lehrauftrag der Universität Basel und 1945 den Ruf auf den eigens für ihn errichteten, ersten europäischen Lehrstuhl für Psychohygiene [5].
Der deutsch-englische Psychoanalytiker John Carl Flügel publizierte schon 1921 ein bahnbrechendes, aber nie in seiner Bedeutung wirklich ernst genommenes und bis heute nicht auf Deutsch übersetztes Buch, «The Psychoanalytic Study of the Family», ein veritables Vorläuferwerk der psychoanalytischen Familientherapie [6].
In diesem kurzen historischen Überblick darf schliesslich auch August Aichhorn nicht fehlen, dessen Werk «Verwahrloste Jugend» von 1925 ein wahrer Dauerbrenner für psychosoziale therapeutische Bemühungen mit schwierigen Adoleszenten ist [7].

Die Wiege Europas Kinderpsychiatrie

Die etwas anmassend klingende Überschrift ist sowohl an Peter Bassoes Artikel von 1945 «Spain as the Cradle of Psychiatry» [8], als auch den davon entlehnten Dissertationstitel von Elisabeth Schaffner-Hänny von 1997, «Wo Europas Kinderpsychiatrie zur Welt kam» [9] angelehnt. Sie legt den Akzent auf die Tatsache, dass der Begriff Kinderpsychiatrie von Moritz Tramer, dem Pionier der helvetischen Kinderpsychiatrie, der lange Jahre in Solothurn tätig war, geprägt worden ist [10]. Leo Kanner seinerseits, der von Berlin in die USA emigrierte und später international renommierte Vertreter der entstehenden Kinderpsychiatrie, übernahm den Begriff für sein 1935 erscheinendes Lehrbuch «Child Psychiatry» [11]. Erst 1937 fand dann der erste von Georges Heuyer organisierte Weltkongress für Kinderpsychiatrie in Paris statt, an dem die meisten der damaligen Pioniere anwesend waren [12].
Gemäss einer Fussnote [13] soll allerdings Werner Villinger, ein Gründervater der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie, diesen Begriff erstmals 1923 verwendet haben. Bereits im Vorwort zur 1. Auflage seines Lehrbuches schreibt Tramer jedoch: «Ohne eine bewusste Entlehnung bei diesen Autoren – die genannten Werke waren mir unbekannt [er bezieht sich u.a. auf eine vorausgegangene Publikation von Sante de Sanctis, wo dieser den Begriff «Pedopsichiatria» verwendet] – habe ich selbst im Jahre 1931 zum ersten Mal den Ausdruck «Pädopsychiatrie» vorgeschlagen und mich auch schon des Wortes kinderpsychiatrisch bedient» [14].
Was die Schweiz anbelangt, hatte Hans Wolfgang Maier bereits 1921 die sogenannte «Stephansburg» eröffnet, eine psychiatrische Einrichtung für Kinder, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft der psychiatrischen Klinik Burghölzli befand. Die erste ambulante kinderpsychiatrische Beratungsstelle in heutigem Sinne wurde dann 1930, wie bereits erwähnt, von André Repond (Sohn des gleichnamigen Gründers der psychiatrischen Klinik in Malévoz und Pionier der «Hygiène mentale») im Kanton Wallis eröffnet.
Tatsächlich wurde in dieser Zeit, den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhundert, stark zu psychischen Problemen von Kindern und Jugendlichen gearbeitet. So kann der 2017 verstorbene Walter Bettschart in einem unveröffentlichten Aufsatz von 2004 zur «Préhistoire de la pédopsychiatrie» schreiben: «Nous nous trouvons au printemps 1933. La Société Suisse de Psychiatrie a choisi pour son assemblée annuelle comme thème principale l’étude des troubles psychiques de l’enfant et de l’adolescent. C’est un sujet qui intéresse de plus en plus les psychiatres. Les enfants et adolescents psychiquement malades et handicapés ont été essentiellement confiés à des instituts éducatifs et caritatifs, dirigés par des religieux et religieuses ou des cliniques psychiatriques. Pourtant, la psychiatrie de l’enfant avait déjà une longue histoire avec des travaux scientifiques des spécialistes de différents pays européens et russes» [15].
Er vermerkt ebenfalls mit Hochachtung die Pionierleistung von Moritz Tramer in der damaligen, politisch und ökonomisch sehr schwierigen Zeit die neue «Zeitschrift für Kinderpsychiatrie» zu gründen und sie anfänglich praktisch nur mit eigenen Mitteln herauszubringen. Die Zeitschrift fand bald nationales und internationales Interesse, in Bettscharts Worten: «Une année plus tard, en avril 1934, le Dr Moritz Tramer a publié, à l’intention des médecins, le premier numéro de la “Zeitschrift für Kinderpsychiatrie (Journal de Psychiatrie Infantile). On peut admirer le courage du Dr Moritz Tramer qui a lancé ce nouveau journal dans une période politique et économique difficile. Cette initiative a été applaudie et soutenue par des collègues Suisse et étranger» [16].

Die kollektive Subjektwerdung einer neuen Spezialität

Die kindliche Entwicklung, ihre «Wege und Irrwege» (so der Titel eines späteren Meilenstein-Buches von Anna Freud [17]), waren also schon länger von Interesse für viele Erwachsenenpsychiater, auch in der Schweiz. So lag es denn gleichsam auf der Hand, diesem Bereich der Kinderpsychiatrie eine eigene Kommission zu widmen.
Tatsächlich wurde bereits 1937 [18] unter der Leitung von Jakob Lutz innerhalb der Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie eine Kommission für Kinderpsychiatrie ernannt, welche schliesslich 1954 zur Anerkennung des Spezialarzttitels für Kinder- und Jugendpsychiatrie, aber erst am 4. Mai 1957 zur Gründung einer eigenen Fachgesellschaft führen sollte. Der Doppeltitel unter Einbezug der Psychotherapie wurde dann 1960 anerkannt.
Aus heutiger Sicht ist es bemerkenswert, dass die Definition von Kinderpsychiatrie, wie sie 1934 von Tramer in der ersten Ausgabe der von ihm im Alleingang begründeten Zeitschrift gleichen Namens und in damals üblicher Terminologie gegeben worden war, auch heute weitgehend noch ihre Gültigkeit hat. Er hielt fest, dass Kinderpsychiatrie, oder pädiatrische Psychiatrie, jener Teil der Medizin sei, der sich mit psychisch abnormen Kindern und Jugendlichen beschäftigt. Er stellte fest, dass sich das Fachgebiet mit Neurologie, Erwachsenenpsychiatrie und Pädiatrie zwar überschneide, aber dennoch eine eigene Position einnehmen müsse, und zwar aus folgenden Gründen: Kinderpsychiatrie brauche eigene Forschungsmethoden und sie beschäftige sich mit unterschiedlichen Formen der Psychopathologie, bei der die zeitliche Dimension eine wichtige Rolle spiele. Das heisst, Kinder sind nicht einfach «kleine Erwachsene».
Der Titel für diesen Artikel «Gemeinsam und doch anders» legt denn auch den Fokus auf die seinerzeitige Ablösung der entstehenden Kinderpsychiatrie als eigene Spezialität von ihrer «grossen Schwester», der Erwachsenenpsychiatrie Dieser Prozess entspricht einer eigentlichen kollektiven Subjektwerdung – einem Vorgang, dem wir in seiner individuellen Form tagtäglich in unserer klinischen und therapeutischen Arbeit begegnen. Anders als in Deutschland einige Jahre später, verlief die Ablösung von der andern «Eltern-Diszipin», der Pädiatrie, deutlich konfliktärmer: «Mit der Pädiatrie gab es ein langes Ringen um Einfluss im entstehenden Fach, auch diese thematisierte bereits früh soziale Aspekte, die später zur Entstehung der Sozialpädiatrie geführt haben» [19].
Diese kollektive Subjektwerdung, also die Loslösung einer neuen medizinischen Fachgesellschaft von ihrer Muttergesellschaft, war und ist – zumindest im mündlichen Narrativ – als reibungsvoller, ja konflikthafter Vorgang verankert. In diese Richtung geht jedenfalls das Zitat aus einem Buchbeitrag von Bettschart und Bürgin von 1999: «On November 19, 1938, the Swiss Commission for Child Psychiatry, with J. Lutz as president, was founded in Lausanne within the framework of adult psychiatry, but there was still considerable resistance to be overcome before the independence of child psychiatry was accepted by colleagues in the adult field» [20]. Zur Präzisierung des von Bettschart und Bürgin erwähnten Datums muss festgehalten werden, dass diese Kommission bereits an der Sitzung vom 7. November 1937 bestellt wurde, und zwar als eine 12-köpfige Kommission mit «Prof. Dr. Tramer, Präsident, Dr. Bersot, Dr. Binder, Dr. Bossard, Dr. Bovet (Lausanne), Dr. Braun, Dr. Christoffel, Dr. Lutz, Dr. Manser, Dr. Manzoni, Dr. Repond, Dr. Weber» [21]. Im Protokoll der Geschäftssitzung der SGP vom 14. und 15. Mai 1938 findet sich dann der Hinweis: «Die Kommission für Kinderpsychiatrie ist gewählt, hat sich aber noch nicht konstituiert» [22].
Bei der Suche nach den historischen Wurzeln dieser Hypothese wurde der Autor vorerst nur sehr beschränkt fündig. Die kontaktierten älteren Kollegen, allen voran Walter Bettschart selbst, waren vorerst leider nicht mehr in der Lage mir die Originaldokumente zu verschaffen. Anlässlich der Konsultation der Jahrbücher des Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie [18] in der Bibliothek des ehemaligen Burghölzli (heute Psychiatrische Universitätsklinik Zürich) fanden sich dann doch einige karge Hinweise, die diese Interpretation der Geschichte bestätigen können und den «Familienmythos» einer komplizierten, konflikthaften und protrahierten Ablösung und Subjektwerdung durchaus stützen.
So werden in den Protokollen gelegentliche finanzielle Zuwendungen festgehalten, zum Beispiel 1939: «Der Kommission für Kinderpsychiatrie wird ein einmaliger Betrag von Fr. 150.– bewilligt» [23]. Und im Protokoll der Sitzung der Kommission für Kinderpsychiatrie der Schweizer Gesellschaft für Psychatrie (SGP) vom 29. Januar 1953, also noch kurz vor Einführung des Spezialarzttitels für Kinderpsychiatrie, 1954 steht: «Für die Unkosten der Kommission erhielten wir – nicht ohne Mühe – einen Betrag von Fr. 200.–» [24].
Für die Zeitschrift «Kinderpsychiatrie», die wie oben bereits erwähnt Moritz Tramer auf eigene Kosten herausgab, gab es vorerst keine Unterstützung. Im Protokoll der Geschäftssitzung der SGPP vom 20. November 1938 heisst es: «Repond beantragt, Tramer für seine Zeitschrift «Kinderpsychiatrie», die dieser mit starken persönlichen Unkosten durchhält, ebenfalls eine Unterstützung zu gewähren. Ein Beschluss wird vorläufig nicht gefasst, weil zunächst die Art der finanziellen Unterstützung nicht festgelegt werden konnte» [25]. Erst im Protokoll der Geschäftssitzung vom 27. Juli 1943 heisst es dann: «Für die Zeitschrift für Kinderpsychiatrie wird ein Betrag von Fr.200.– genehmigt» [26].
So kann der Vorgang der Gründung einer neuen, eigenen Fachgesellschaft für Kinderpsychiatrie durchaus mit einer kindlichen, beziehungsweise adoleszenten Autonomisierungskrise verglichen werden, die ja beide eine individuelle und damit auch familiär-kollektive Subjektwerdung zum Ziel haben, wie wir dies regelmässig in der Praxis, bei Psycho- und Familientherapien erleben können.
In den Worten von Bettschart: Relation avec la SSP: «Cette décision importante [Gründung einer eigenen Fachgesellschaft am 4. Mai 1957] ne se prenait pas sans douleur, car il signifiait la séparation de la société de la psychiatrie. C’était visiblement un pont important. Rétrospectivement nous pourrions parler d’un processus de séparation et d’autonomisation» [27]. Er sieht die Entstehung der Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie also als einen Separations- und Autonomisierungsprozess im Sinne Margret Mahler [28]. Mahler spricht von der Loslösungs- und Individuationsphase. Die Loslösung und die Individuation sind nach ihr zwei getrennte, aber im Idealfall parallel verlaufende Sozialisationsvorgänge im Sinne einer ontogenetisch verstandenen Selbstwerdung.
Ein zentrales Thema von Mahlers Werk ist in der Tat der Prozess der gesunden Individuation, als deren Voraussetzung sie die Lösung aus der frühen, von ihr als symbiotisch bezeichneten Beziehung zur Mutter sieht.
Während die erwähnten Konzepte der ontogenetischen Konstituierung einer «individuellen psychologischen Entität» sich vor allem auf Individuen beziehen, erlauben uns die Arbeiten von Norman Elrod die Entstehung der Schweizerischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (SGKJPP) als eine kollektive Subjektwerdung zu sehen [29]. Elrod war die Subjektwerdung nicht nur in ihrer individuellen, sondern ebenso in ihrer kollektiven und gesellschaftlichen Form ein zentrales Forschungs- und Therapie-Anliegen war.
Elrod beschreibt die «individuelle, kollektive und gesellschaftliche Subjektwerdung» in seinem Aufsatz «Zur Konstituierung der Subjektivität in der Ontogenese» von 1979 [30]. Er hält fest: «Zum Begriff der Subjektivität gehen wir grundsätzlich davon aus, dass Subjektivität jeweils historisch-konkret auf dem Hintergrund der ökonomischen Gesellschaftsformationen, in der sie vorkommt, bestimmt werden soll, wobei die Wechselbeziehungen, die zwischen dieser Gesellschaftsformation und andern Gesellschaftsformationen, die zur gleichen Zeit bestehen, genau berücksichtigt werden müssen. Für uns kann es eine Subjektivität des individuellen, des kollektiven und des gesellschaftlichen Subjektes geben, die je nach der historisch-konkreten Situation konstituiert, rekonstruiert, umkonstituiert oder aus-konstituiert wird» [30].
Nach dieser langen Vorbereitungszeit (1937–1957) geht die Gründung der neuen Fachgesellschaft für Kinderpsychiatrie dann einigermassen locker vonstatten. Im Protokoll der SGPP vom 15./16.Juni 1957 heisst es: «Lutz [Zollikon]: Bericht der Kommission für Kinderpsychiatrie im Jahre 1957. Bei einer Sitzung dieser Kommission am 10.11.1956 in Basel wurde beschlossen, die Gründung einer eigenen Gesellschaft für Kinderpsychiatrie vorzubereiten. Am 4.5.1957 ist an einer Sitzung in Bern, zu der alle schweizerischen Kinderpsychiater eingeladen worden waren, die Schweizerische Gesellschaft für Kinderpsychiatrie SGKP gegründet worden» [31].
Und von der Geschäftssitzung vom 23. November 1958 in Basel wird dann unter 5. Statutenänderung betreffend Artikel 7h protokolliert: «Anstelle der alten Texte mit der Bezeichnung «Kommission für Kinderpsychiatrie» tritt gemäss Beschluss der heutigen Sitzung folgender neuer Text: h) Schweizerische Gesellschaft für Kinderpsychiatrie (SGKJP): sie konstituiert sich selbst und hat eigene Statuten und Rechnungsführung. Der Vorstand besteht aus Ärzten. Der Präsident der SGP oder ein von ihm bezeichnetes Mitglied des Vorstandes gehört ex officio der SGKJP an» [32].

Zur aktuellen Situation

Derzeit ist das «kollektive Subjekt» SGKJPP eine der mittlerweile 44 Fachgesellschaften der FMH. Sie wirkt in allen relevanten Gremien der Ärzteschaft engagiert mit und ist als eigenständige Fachgesellschaft akzeptiert. Seit nun 20 Jahren ist die SGKJPP gemeinsam mit der Erwachsenen-Fachgesellschaft SGPP unter dem Dach der Foederatio Medicorum Psychiatricorum et Psychotherapeuticorum (FMPP). Diese zur Zeit der Tarifdiskussionen vor Einführung des Tarmed (2004) gegründete Dachgesellschaft sollte den medizinischen «Wort-Disziplinen» zu mehr Gewicht und Einfluss in den damaligen Verhandlungen verhelfen. Obwohl seinerzeit von Seiten der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachärzte und Fachärztinnen Ängste dahingehend geäussert wurden, dass die SGKJPP wieder in den Schoss der grossen Muttergesellschaft «zurückfusioniert» werden könnte, hat sich diese Organisation bewährt (der Schreibende war von 2002–2005 Präsident der Fachgesellschaft und hat diese Periode miterlebt). Die beiden Fachgesellschaften arbeiten mittels ständiger Kommissionen für Tarife, für Versicherungsfragen, für Kommunikation und weiteres eng zusammen.
Auch auf internationaler Ebene wirkt die SGKJPP in den einschlägigen europäischen Fachgesellschaften Union européenne des médecins spécialistes (UEMS) und European Association of Child and Adolescent Psychiatry (ESCAP), sowie der International Association of Child and Adolescent Psychiatry and Allied Professions (IACAPAP) prominent mit. Aufgrund der vorliegenden Daten ist die Schweiz noch immer das mit Kinderpsychiatern und Kinderpsychiaterinnen am besten dotierte Land Europas und wohl auch mondial [33].
Dr. Patrick Haemmerle
Fribourg

Zusammenfassung

Bei der seinerzeitigen Entstehung der Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie handelte es sich um die Konstituierung eines kollektiven Subjektes. Wie dies auch auf den andern Ebenen (der individuellen und der gesellschaftlichen) der Fall ist, geht ein derartiger Prozess regelhaft mit Konflikten einher. Dem tut die Tatsache keinen Abbruch, dass der Autor zwar kaum Hinweise auf grössere und markante Konflikte fand, wohl aber protokollarische Bemerkungen, die auf eine gewisse Hinhalte-Tendenz von Seiten der seinerzeitigen SGP-Verantwortlichen schliessen lassen. Auf jeden Fall können die rund 20 Jahre – also die formelle Vorlaufphase von der Bestellung einer Kommission für Kinderpsychiatrie innerhalb der SGP, von 1937 bis zur offiziellen Gründung der neuen Fachgesellschaft 1957 – wohl doch als Indiz dafür genommen werden, dass die Geburt des kollektiven Subjektes SGKJP eine konfliktbedingt protrahierte war. Aktuell ist die Fachgesellschaft SGKJPP national und international nicht mehr wegzudenken.
Dieser Artikel geht auf ein Exposé zurück, das der Autor anlässlich des SGPP-Kongresses 2017 «Die Psychiatrie der Zukunft» in einem Symposium unter dem Titel «Die Zukunft von Psychoanalyse und Psychosomatik» präsentierte, sowie auf ein von ihm verfasstes Kapitel über die Schweiz in einer IACAPAP Monographie, 2018.
Der Autor hat deklariert, keine potenziellen Interessenskonflikte zu haben.
Dr. Patrick Haemmerle
Cabinet Pérolles
Boulevard de Pérolles 30
CH-1700 Fribourg
1 Rousseau J-J. Émile, ou De l’éducation. Paris: Jean Néaulme; 1763.
2 Itard JMG. Mémoire et rapport sur Victor d’Aveyron. Paris: 1801 & 1806.
3 Hoffmann H. Der Struwwelpeter. Frankfurt a. M.: Rütten & Loening; 1845.
4 Emminghaus H. Die psychischen Störungen des Kindesalters. In: Handbuch der Kinderkrankheiten. Tübingen: Verlag Laupp; 1878.
5 Hügler G, Amalthea M. Psychohygiene [Internet]. Wikipedia [cited 7 November 2022]. Available from: https://de.wikipedia.org/wiki/Psychohygiene
6 Flügel, JC. The Psychoanalytic Study of the Family. London: Hogarth Press; 1921.
7 Aichhorn A. Verwahrloste Jugend: Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung. 9. unv. Auflage. Bern: Hans Huber; 1925.
8 Bassoe P. Spain as the Cradle of Psychiatry. Arch Neurol Psychiatry. 1946;55:432-435.
9 Schaffner-Hänny E. Wo Europas Kinderpsychiatrie zur Welt kam: Anfänge und Entwicklungen in der Region Jurasüdfuss (Aargau, Solothurn, Bern, Freiburg, Neuenburg). Dietikon: Juris Druck und Verlag; 1997.
10 Jorisch-Wissink E. Der Kinderpsychiater Moritz Tramer: (1882–1963). Zürich: Juris Druck und Verlag; 1986.
11 Kanner L. Child Psychiatry. Springfield: Thomas; 1935.
12 Tramer M. Lehrbuch der allgemeinen Kinderpsychiatrie. 4. Auflage. Basel: Schwabe und Co; 1964.
13 Castell R, Nedoschill J, Rupps M, Bussiek B. Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland in den Jahren 1937 bis 1961. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; 2003. S. 456.
14 Tramer M. Lehrbuch der allgemeinen Kinderpsychiatrie. 4. Auflage. Basel: Schwabe und Co; 1964. S. 5.
15 Bettschart W. Préhistoire (le Début). Exposé, non publié; 2004.
16 Bettschart W. Préhistoire (le Début). Exposé, non publié; 2004. S. 1.
17 Freud A. Wege und Irrwege in der Kinderentwicklung. Bern/Stuttgart: Huber/Klett-Cotta; 1968.
18 Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie. 1938; Band XLII.
19 Schepker K, Harsch D, Fegert JM. Die «schwer erziehbaren Kinder» benötigten dringend einen Arzt – verbandspolitische Vorgeschichte zur Einführung des Facharzttitels für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland 1968. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 2021:49(3); S.171.
20 Bettschart W, Bürgin D. Child and adolescent psychiatry in Switzerland. In: Remschmidt H, van Engeland H. Child and Adolescent Psychiatry in Europe: Historical Development - Current Situation - Future Perspectives. Berlin: Springer; 1999. S. 364.
21 Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie. 1938; Band XLII. S.240(16).
22 Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie. 1938; Band XLII. S.216.
23 Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie. 1938; Band XLII. S.465.
24 Gesellschaftsarchiv der SGKJPP. Protokoll der Sitzung vom 29. Januar 1953; Box 59286. S. 1.
25 Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie. 1938; Band XLII. S. 404.
26 Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie. 1938; Band XLII. S. 146.
27 Bettschart W. Préhistoire (le Début). Exposé, non publié; 2004. S. 4.
28 Mahler M. Die psychische Geburt des Menschen: Symbiose und Individuation. Frankfurt a. M.: Klett Cotta: 1975.
29 Elrod N. Zur Wesensbestimmung des Menschen: Sechs Aufsätze. Zürich: Althea Verlag; 1994.
30 Elrod N. Zur Wesensbestimmung des Menschen: Sechs Aufsätze. Zürich: Althea Verlag; 1994. S. 74-75.
31 Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie. 1938; Band XLII. S. 178.
32 Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie. 1938; Band XLII. S. 358.
33 Haemmerle P. Child and Adolescent Psychiatry in Switzerland. In: Hodes M. et al.: Understanding Uniqueness and Diversity. Child an Adolescent Mental Health. London: Academic Press Elsevier; 2018.