Wer sind wir?

Psychiatrie ist mehr als nur Medizin

Kommentar
Issue
2023/01
DOI:
https://doi.org/10.4414/sanp.2023.03356
Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2023;173:w03356

Published on 15.02.2023

Die Identitätskrise der Psychiatrie.

Kürzlich hatte Fulvia Rota, die Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) in einem Interview über einige Schwerpunkte ihrer Arbeit gesprochen [1]. Insbesondere gehe es darum das Image der Psychiatrie zu verbessern und dieses auch zu kommunizieren. Zudem müsse die Aufmerksamkeit der Politik gewonnen werden, um die notwendigen Ressourcen für die psychiatrische Versorgung zu erhalten. Ebenso sollten nicht alle politischen Vorgaben einfach unkritisch übernommen werden. Nichts scheint mir an diesem Artikel falsch zu sein, doch reicht das wirklich?
Dr. med. Urs Dudle
Anerkannter Supervisor/Lehrtherapeut der Universität Zürich MAS/DAS, Psychotherapie-Praxis Schoffelgasse
Wer sind wir Psychiater überhaupt und was ist unser Fach, die Psychiatrie und Psychotherapie? Wer wären wir denn eigentlich, wenn wir dem gerecht würden, was wir sind?
Anlässlich einer Fortbildung habe ich diesbezüglich kurz mit dem Kollegen Paul Hoff1 gesprochen. Er meinte treffend, dass er immer wieder den Eindruck habe, die Psychiater würden sich entschuldigen, für das, was sie sagten, und dafür, wer sie seien. Gibt es tatsächlich so etwas wie eine psychiatrische Scham? Es gibt diesen Medizinerwitz, bei dem etwa der Chirurg derjenige ist, der nichts weiss aber alles kann. Am Ende bleibt der Psychiater, der nichts weiss und nichts kann. Wie kommt das?
Es ist symptomatisch, dass fast alle Referenten an psychiatrischen Fortbildungen mit irgendwelchen neurobiologischen Untersuchungen die Objektivität ihrer Aussagen zu untermauern suchen, als müsste sich die «richtige» Psychiatrie doch bio-physiologisch feststellen lassen. Weil das doch nicht ganz gelingt, bleibt am Ende die uneingestandene Scham, halt nicht ganz «wissenschaftlich» zu sein. Dem Zeitgeist entsprechend mache ich mir um den neuropsychiatrischen Ansatz keine Sorgen, wohl aber um den ganzen Rest, der unser Fach auch noch umfasst. Biologische Erkenntnisse mögen uns zwar beeinflussen, doch unser Fach ist massgeblich von unserem Menschenbild und unseren Werten mitbestimmt. Auf letztere wird uns die Biologie niemals eine schlüssige Antwort liefern. Mittlerweile ist unser bio-psycho-soziales Modell zwar in aller Munde und es wurde jüngst noch um eine spirituelle Dimension erweitert. Ich kann mich allerdings des Eindrucks nicht erwehren, dass die letzten 3 Dimensionen faktisch oft als peinlich unwissenschaftlich empfunden werden, da sie als viel zu persönlich und menschlich erscheinen. Ist es uns Psychiatern denn bewusst, dass mindestens die Hälfte unsers Faches nicht naturwissenschaftlicher sondern geisteswissenschaftlicher Natur ist? Und wird das auch ausgesprochen, nach aussen vertreten? Geisteswissenschaften sind nicht einfach unwissenschaftlich, sondern hier gelten schlicht andere Regeln und letztlich sind sie voller Unabwägbarkeiten. Hier sucht man vergebens nach handfesten, unumstösslichen Beweisen, welche es übrigens bei exakter Betrachtung auch in der Naturwissenschaft nicht gibt. Also doch, der, der am Ende nichts weiss? Richtig! «Psychiatry is the most self-doubting speciality» [2] Und genau dieser Selbstzweifel ist am Ende ein zentrales Element jeder Wissenschaft. Nichts ist unwissenschaftlicher, als das Unanzweifelbare, das absolut Sichere.
Was heisst das nun für unsere Tätigkeit? Wir kennen beispielsweise das Schlagwort der patientenzentrierten Medizin. Als Psychiater kann ich mich nicht einfach auf verschiedene biologische Marker, Phäno- und Genotypen verlassen. Die Psyche, unter anderem verschaltet in unserem Gehirn, hat sich längst als das variabelste «Organ» des Menschen herausgestellt. Nirgendwo in der Medizin sind die Diagnosen mehrdimensional (z.B. DSM). Nirgendwo in der Medizin ist mehr Flexibilität in der Behandlung gefordert als in der Psychiatrie. Die Vielzahl der therapeutischen Schulen ist Ausdruck davon. Sie umfassen zudem expressive Mittel und binden damit auch alle Formen der Künste mit ein. Mit dieser breiten Fächerung sind wir einmalig in der Medizin. Vertreten wir das auch konsequent nach aussen?
Vor zwölf Jahren stritt ich mich mit dem Fortbildungsverantwortlichen der SGPP [3], nachdem man uns Psychiatern die zehn Stunden freie Fortbildung gestrichen hatte. Heute kann ich mir etwa ein anerkanntes Referat zur sideroachrestischen Anämie als erweiterte Fortbildung anrechnen lassen, nicht aber einen Workshop mit vertiefter Selbsterfahrung. Dies kann einzig anstelle von Selbststudium anerkannt werden. Für praktisch alle Medizinier war die neue Verordnung ein Fortschritt. Für uns Psychiater hingegen ein Verlust. Das fand der SGPP-Delegierte ganz in Ordnung. Ist uns klar, dass ich als Psychiater wohl das wichtigste diagnostische wie auch therapeutische Instrument in meiner Arbeit bin? Damit müsste ja eigentlich ebenso klar sein, dass meine Persönlichkeitsbildung für meine Arbeit ganz entscheidend ist. Soll damit nun gesagt sein, dass wir Psychiater bei der FMH eine Sonderregelung für unsere Fortbildung hätten verlangen sollen, eine Extrawurst, wie wir das so schön nennen. Ja! Nicht weil wir irgendetwas Besseres sind, sondern weil wir anders sind und deshalb andere Bedürfnisse haben.
Unsere andersartigen Bedürfnisse zeigen sich auch in vielen anderen Bereichen. Zertifizierungen, Standardisierungen und Qualitätskontrollen, sofern überhaupt sinnvoll, sehen bei uns ganz anders aus als in der somatischen Medizin. Da die Wahl des eigenen Psychiaters für einen Patienten nicht nur eine ausgesprochen persönliche, sondern oft auch eine entscheidende ist, macht ein Anschluss eines Psychiaters an ein medizinisches Netzwerk nur beschränkt Sinn. Vielleicht ist es zielführend, die schwer kranken psychiatrischen Patienten und allenfalls verordnete Medikamente in einem Nationalen Elektronischen Patientendossier zu erfassen. Doch es ist davon auszugehen, dass eine Mehrzahl unserer Patienten nicht in einem so weitläufig einsehbaren System erfasst werden möchten. Alleine die Tatsache dass solche Fragen von uns Psychiatern kaum diskutiert werden, lässt aufhorchen. Haben wir wirklich den Mut, uns solchen Fragen zu stellen und hernach für die gewonnenen Antworten auch hinzustehen?
Wer sich für die biologischen Grundlagen unserer Psyche interessiert, studiert heute Neurowissenschaften, wer Psychotherapie machen will, studiert Psychologie. Kein Wunder, dass wir kaum einheimische Psychiater finden, obwohl gerade in diesem Fach der kulturelle Hintergrund besonders wichtig ist. Wozu soll ein junger Akademiker Psychiater werden, wenn einem ein zweifelhafter Ruf und das geringste Einkommen aller Mediziner wartet?
Die Krise der Psychiatrie ist hausgemacht. Imagepflege und gute Kommunikation alleine können daran nichts Substanzielles ändern.
Die Psychiatrie kann vor ihrer Mehrdimensionalität nicht fliehen! Ganz im Gegenteil: Wir müssen endlich lernen, zur Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit in der Psychiatrie zu stehen und diese auf unsere Fahne schreiben. Diese speziellen Eigenschaften unseres Faches sind kein Makel, sondern dessen Reiz und Schönheit. Wer das Mehrdimensionale, das Vielschichtige und Unabwägbare, das Schwierige und Unfassbare, die Dilemmata liebt und damit arbeiten will, der ist bei uns richtig. Dies zu bejahen, daraus entsteht Stärke!
Und ganz praktisch gesehen: Vielleicht sollte eines unserer nächsten Treffen nicht hinter geschlossen Türen in Plenarsälen sondern auf dem Berner Bundesplatz stattfinden. Doch dazu bräuchte es allerdings eine gewisse Vorbereitung. Gehen wir sie an!
Der Autor gab an, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Dr. med. Urs Dudle
Psychotherapiepraxis Schoffelgasse
Schoffelgasse 3
CH-8001 Zürich
1 Rota F, Studer K. Es ist eine Herkulesaufgabe, das Image der Psychiatrie zu verbessern. Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2022;173:03304. doi: 10.4414/sanp.2022.03304
2 Roland Littlewood. The Lancet. 1991;337. Zitiert nach Paul Hoff: Woher kommen wir, und wer sind wir? Gedanken zur professionellen Identität in Psychiatrie und Psychotherapie, Symposium der Privatklinik Hohenegg vom 06.10.2022.
3 Dudle U. Vorbei mit der Freiheit. Schweizerische Ärztezeitung. 2010;91:43.