Dass der alten Version des Buches in der Neuausgabe nebst dem Kapitel über Kurztherapie auch eines über die Problematik mit Migranten beigefügt ist (Saskia von Overbeck Ottino), ist zeitgemäss und ohnehin notwendig. In diesem Kapitel wird der Begriff des «kulturellen Unbewussten» verwendet. Das lädt zu einer Diskussion der Dialektik in den Begriffen des Individuellen und des Kollektiven ein. Wie passt das kulturelle Unbewusste (man denke an die alte Jung’sche Formulierung des «kollektiven Unbewussten») zum Strukturmodell Freuds, das das Überich zur Instanz der Werte und Verbote erklärt, das also zuständig sein soll auch für alles Ideologische und Kulturelle, sofern es nicht im Ich repräsentiert ist? Ich verstehe die Autorin so, dass das Kulturelle unter dem Druck des Institutionalisierten eine besondere Aufmerksamkeit und Achtung erfordert, die durch entsprechende ethnologische Kenntnisse verständlich gemacht und gestützt werden. Man kann sich nicht erlauben, angesichts einer Problemlage, die das Kulturelle betrifft, lediglich die gewohnten Überich-Deutungen zu verwenden, wie sie in der traditionellen individuellen Psychotherapie angebracht sein können. In der traditionellen Medizin wird das Kollektiv oft in die Behandlung einbezogen, zum Beispiel mit Ritualen. Darauf wird näher eingegangen, so auf S.210: «représentations ontologiques, étiologiques et thérapeutiques». Ontologisch ist zum Beispiel die Ansicht, Babys gehörten noch nicht zu den lebenden Menschen, sondern zu den Toten, solange sie nicht sprechen; therapeutischen Repräsentanzen in der traditionellen Medizin entsprechen Schutz-Riten oder Gegenzauber («désenvoûtement»). Klinische Fallbeispiele wie «Joseph» (S.205 und 212f.) zeigen, wie oft für «westliche» Betreuer unerwartete Vorstellungen vorherrschen: Der wenig zugängliche, «langweilige» Patient stösst erst anlässlich des Stammbaumstudiums auf seine verdrängte Familiengeschichte, was nun den Prozess der freien Assoziation in Gang bringt. Das Kriseninterventionsmodell, dessen Theorie den krisenhaften Zustand des Patienten als eine Maskierung ungelöster alter Konflikte auffasst und zu technisch flexibler und kreativer Arbeit anhält, ist für die Besonderheiten der Migranten besonders geeignet (S.219 f). Erforderlich ist dazu ein doppelter Zugang, psychopathologisch («singulier») und kulturell, im Fall Joseph wurde die Massage als Schutz vor bösen Geistern im Rücken empfunden. Gedacht war sie als Tätigkeit in einem Übergangsraum vom Somatisieren zum Mentalisieren. Der Kontext der Migration, einschliesslich der oft grausam wirkenden Reglemente im Gastland, ist manchmal so schlimm, dass die Betreuer es kaum aushalten können und versucht sind, sich auf kodifizierte individuell-psychopathologische Kategorien zu beschränken, um der Belastung angesichts des wahren Ausmasses der Traumatisierung auszuweichen. Durch zu rasche Massnahmen der Symptombekämpfung vergeben sie sich die Chance, in tiefere Schichten vorzustossen und die Krise fruchtbar zu machen.