Jens Winkler: Suchttherapie inside. Erfahrungswissen für junge Therapeutinnen und Therapeuten

Ein gutes Amalgam aus Theorie und praktischer Erfahrung

Book Review
Issue
2023/01
DOI:
https://doi.org/10.4414/sanp.2023.03286
Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2023;173:w03286

Published on 15.02.2023

Der Autor dieses handlichen, kleinen Buchs von 140 Seiten ist psychologischer Psychotherapeut mit tiefenpsychologischem Schwerpunkt, in eigener Praxis niedergelassen. Er blickt auf eine langjährige Tätigkeit in Einzel- und Gruppensettings in mehreren Kliniken in Deutschland und der Schweiz zurück.
Jens Winkler: Suchttherapie inside. Erfahrungswissen für junge Therapeutinnen und Therapeuten
Stuttgart: Schattauer Verlag; 2022, nur als E-Book erhältlich, 28,00 Euro, ISBN 978-3-608-40085-4
Im vorliegenden Werk möchte Jens Winkler angehenden Therapeut:innen eine Orientierung für die Arbeit in der stationären Suchttherapie – in diesem Fall der mehrmonatigen Entwöhnungsbehandlung bei Alkoholabhängigkeit – geben und das beschreiben, «was er gerne zu Beginn seiner Laufbahn gelesen hätte», nämlich Erfahrungen aus tiefenpsychologisch-humanistischer Perspektive und Anregungen zu einer positiven Beziehungsgestaltung. So wählt er bewusst einen nicht-wissenschaftlichen, erzählenden Stil, der teilweise zu umgangssprachlich wirkt, wenn zum Beispiel davon die Rede ist, dass «Mitarbeiter (…) verschlissen» werden und «Suchtdynamiken (…) in die Behandlerteams überschwappen». Dies ist umso verwunderlicher als der Autor u.a. den gesellschaftlich verankerten, teilweise abwertenden Sprachgebrauch im Hinblick auf Suchterkrankte kritisiert.
In 11 Kapiteln werden die Psychodynamik von Suchterkrankungen, der stationäre Behandlungsrahmen, die Gruppentherapie, der Einbezug von Angehörigen, die «Institution», der Umgang mit schwierigen Behandlungssituationen und hilfreiche Haltungen beleuchtet.
Sowohl die Einführung als auch die Erläuterungen suchtbehandlungsrelevanter psychodynamischer Konzepte (wie Selbst und Selbstwertgefühl, ideales Objekt und libidöse Besetzung, Autonomie, sadomasochistischer Modus) und deren Verdeutlichung anhand von Beispielen stellen ein gutes Amalgam aus Theorie und praktischer Erfahrung dar. Sie können für Berufsanfänger:innen hilfreich sein ebenso wie die Beleuchtung des stationären Behandlungsrahmens mit Spezifika wie Grenzen, Regeln, heimliche Konsumereignisse, Misstrauen, disziplinarische Entlassung und Realitätstests. Hier greift der Autor Themen auf, die auf beiden Seiten der therapeutischen Beziehung im Rahmen von Suchtbehandlungen eher anzutreffen sind als in anderen psychiatrischen Schwerpunkten. Die Weitergabe dieses Erfahrungswissens kann den Berufseinstieg erleichtern, indem das Erleben von Ausgenutzt-Werden, Resignation und geringer Verstärkung narzistischer Bedürnisse - vor allem durch das erlebte «Scheitern» von Behandlungen nach therapeutischen Massstäben - von der individuellen auf eine Problem-immanente Ebene gehoben wird.
Nach einer Kritik an gesellschaftlich favorisierten Konzepten für die Suchtbehandlung wie dem Abstinenzparadigma widmet sich der Autor in ermutigendem Ton der positiven Beziehungsgestaltung, der Rolle des Therapeuten und den Angehörigen. Hingegen kritisiert er Institutionen, weil sie die Autonomie des Individuums (zu) wenig fördern. Diese Ausführungen sind überwiegend für alle psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlungen im stationären Setting gültig. Hier fehlt die suchtspezifische Komponente.
Ausgesprochen positiv sind die didaktischen Mittel zu werten, nämlich ein imaginärer Dialog, Merksätze, Praxistipps und Anregungen zur Reflexion. Dagegen sollte ein im Jahr 2022 erscheinendes Buch nicht nur auf ICD 10, sondern auch auf ICD 11 rekurrieren. Wiederholungen von Kerngedanken, wie die positive Beziehungsgestaltung und der dreimalige Hinweis auf diesselben Manuale wirken ermüdend. Am Rande angemerkt sei eine Irritation bezüglich des zweisprachigen Haupttitels eines Buchs für den deutschsprachigen Raum und des gender-gerechten Untertitels zu einem Buch, das die männliche Form sonst nicht verlässt. Übrigens wendet sich die Monographie ausschliesslich an Assistenzpsycholog:innen, nicht jedoch an Ärzt:innen. Daraus ergibt sich die abschliessende Frage, ob Unterschiede in der Sozialisation der genannten Berufsgruppen in Bezug auf die selbstverständliche Weitergabe von Erfahrungswissen bestehen, wobei ein kollegialer Austausch das Lesen eines Buches ersetzen könnte.
Der erste Teil dieses Buches erscheint für junge Kolleg:innen, psychologische und ärztliche, lesenswert, während der zweite Teil die geweckten Erwartungen nicht erfüllt.