Entwicklungen in der Corona-Pandemie

Jugendliche in der Erwachsenen-psychiatrie – Auswirkungen auf die Rehospitalisierungsrate

Original Article
Issue
2023/03
DOI:
https://doi.org/10.4414/sanp.2023.03282
Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2023;174(03):85-87

Affiliations
a Integrierte Psychiatrie Winterthur – Zürcher Unterland; b Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich

Published on 14.06.2023

Summary

Adolescents in acute adult psychiatric wards – developments in the coronavirus pandemic and implications for rehospitalisation rates
Children and adolescents are severely affected by the coronavirus pandemic in their everyday lifes and possibly also in their long-term development. Currently, a significant increase in mental health problems among children and adolescents and a corresponding increase in the use of the healthcare system can be observed in Switzerland. Studies from German speaking countries show that the burden of mental problems such as anxiety and depression has increased, and the quality of life has decreased at the same time.
The present study aimed to investigate how the number of adolescents who were treated for capacity reasons in adult psychiatry in the canton of Zurich developed during the pandemic and whether treatment in specialised adolescent psychiatry differs from treatment in adult psychiatry in terms of rehospitalisation rates.
Keywords: Akutpsychiatrie; Versorgungsforschung; Adoleszentenpsychiatrie; Covid-19; Rehospitalisierung

Einleitung

Kinder und Jugendliche sind durch die Corona-Pandemie in ihrem Alltag und möglicherweise auch in ihrer langfristigen Entwicklung stark beeinträchtigt. Aktuell ist in der Schweiz eine deutliche Zunahme von psychischen Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen und einer damit einhergehenden stärkeren Inanspruchnahme des Gesundheitssystems festzustellen. Studien aus deutschsprachigen Ländern zeigen, dass die Belastung mit psychischen Problemen wie Angst und Depression zugenommen und die Lebensqualität gleichzeitig abgenommen hat [1]. Eine repräsentative Studie mit Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen und ihren Eltern zeigte bereits nach dem ersten Lockdown, dass mehr als ein Drittel der Kinder und Jugendlichen in der Schweiz psychische Probleme berichteten. Neben Angst und depressiven Symptomen nahmen Konzentrationsstörungen und eine erhöhte Irritabilität besonders zu. Bei 30% wurde ein pathologischer Medienkonsum beobachtet. Die Ergebnisse zeigten, dass Kinder und Jugendliche besonders gefährdet waren, psychische Störungen zu entwickeln [2].
Für den gesamten deutschsprachigen Raum (Österreich, Deutschland, Liechtenstein und die Schweiz) konnten Schmidt et al. [3] zeigen, dass zwischen 15,3% und 43% der Sorgeberechtigten eine Zunahme von emotionalen Problemen und Verhaltensproblemen bei Kindern und Jugendlichen berichteten. Dabei gaben Sorgeberechtige von Vorschulkindern vor allem eine Zunahme von oppositionellen Verhaltensweisen an, wohingegen Jugendliche eine Zunahme von emotionalen Problemen berichteten.
Eindrückliche Zahlen für die Schweiz liefert auch die Corona Stress Study [4] im Hinblick auf die Entwicklung von depressiven Symptomen. Gerade die Altersgruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen zeigte die grösste Belastung mit einer Zunahme über den zeitlichen Verlauf der Pandemie.
Depressionen sind als Risikofaktor für suizidale Krisen bekannt und so passt es ins Bild, dass auch die Kriseninterventionen von Jugendlichen auf Akutstationen deutlich zugenommen haben. Erste Publikationen aus dem Kanton Zürich deuten darauf hin, dass die Kriseninterventionen aufgrund von emotionalen Störungen, selbstverletzendem Verhalten und Suizidalität sowie die Zuweisungsrate deutlich zugenommen haben [5]. Nach einem anfänglichen Rückgang der Notfallkontakte zu Beginn des ersten Lockdowns nahm die Inanspruchnahme des zentralen Notdienstes in den folgenden Monaten zu und hat sich seitdem auf einem deutlich höheren Niveau als vor der Pandemie stabilisiert. Ein Vergleich des Jahres 2019 mit dem ersten Halbjahr 2021 zeigte, dass sich die Zahl der telefonischen Notfallkontakte fast verdoppelt hatte und die Zahl der ambulanten Notfalleinsätze um 40% gestiegen war. In diesem Beobachtungszeitraum hatten sich auch die stationären Einweisungen von Minderjährigen in die Erwachsenenpsychiatrie mehr als verdoppelt, da die Kapazitäten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht ausreichend waren [5].
Im Kanton Zürich ist die psychiatrische Gesundheitsversorgung dahingehend geregelt, dass bei einer Vollbelegung der jugendpsychiatrischen Stationen Jugendliche auf Akutstationen der Erwachsenenpsychiatrie zugewiesen werden. Dies wird über die kantonale Notfalltriage (KANT) koordiniert. Insgesamt lässt sich seit Beginn der Corona-Pandemie ein deutlicher Zuwachs von Notfallhospitalisierungen bei Jugendlichen verzeichnen (ebd.), da die Stationen für Jugendliche in der Regel auch vor der Pandemie schon ausgelastet waren, spiegelt sich dies vor allem in den Hospitalisierungen von Jugendlichen in der Erwachsenenpsychiatrie wider [5].
In der vorliegenden Arbeit sollte untersucht werden, wie sich in einer Versorgungsklinik im Kanton Zürich
die Zahl der Jugendlichen, die in der Erwachsenenpsychiatrie behandelt wurden bzw. aus Kapazitätsgründen behandelt werden mussten, während der Pandemie entwickelt hat.
die Behandlung in einer spezialisierten Jugendpsychiatrie hinsichtlich der Rehospitalisierungsraten von einer Behandlung in der Erwachsenenpsychiatrie unterscheidet.

Methoden

Die routinemässig erhobenen medizinischen Statistikdaten der Integrierten Psychiatrie Winterthur – Zürich Unterland (ipw) wurden bezüglich Hospitalisierungen von Jugendlichen (<18 Jahre) für die Jahre 2015 bis 2021 retrospektiv analysiert. Dabei interessierten einerseits die Klinikaufnahmen insgesamt und andererseits die Behandlungen auf Akutstationen im Erwachsenenbereich. In einem zweiten Analyseschritt wurden alle Jugendlichen identifiziert, die im Jahr 2020 eine (oder mehrere) stationäre Behandlung abgeschlossen hatten. Diese Jugendlichen wurden ab dem Zeitpunkt des ersten stationären Austritts 2020 bis am 31.12.2021 nachbeobachtet, und die Zeiten bis zu allfälligen Rehospitalisationen wurden mittels Überlebenszeitanalysen zwischen den folgenden beiden Gruppen verglichen: (a) Jugendliche, die während dem (letzten) stationären Aufenthalt ausschliesslich in einer jugendpsychiatrischen Einrichtung behandelt worden waren versus (b) Jugendliche, die zumindest teilweise auf einer Akutstation der Erwachsenenpsychiatrie behandelt worden waren. Dabei wurde statistisch für Patienten- und Behandlungsmerkmale (Alter, Geschlecht, Hauptdiagnose gemäss ICD-10, Fürsorgerische Unterbringung (FU) und Aufenthaltsdauer) kontrolliert, falls sich diese zwischen den beiden Gruppen unterschieden. Da manche Jugendliche im Auswertungszeitraum bis zum 31.12.2021 mehrere Wiedereintritte hatten (recurrent events), wurden die Konfidenzintervalle der Hazard Ratios (HR) mit dem Modell von Prentice, Williams und Peterson [6] geschätzt, das möglichen Abhängigkeiten zwischen wiederholten Ereignissen (Rehospitalisationen) innerhalb der Patienten Rechnung trägt.

Resultate

Abbildung 1 zeigt eine deutliche Zunahme der stationären Aufnahmen und Behandlungstage von Jugendlichen (<18 Jahre) insgesamt und von minderjährigen Jugendlichen auf Akutstationen der Erwachsenenpsychiatrie seit Beginn der Pandemie. Gegenüber dem Jahr 2019 (24,8%) hatte der Anteil der stationären Behandlungsepisoden von Minderjährigen, die zumindest teilweise auf Akutstationen im Erwachsenenbereich erfolgten, im Jahr 2020 (36,8%; p = 0,002) und im Jahr 2021 (45,9%; p <0,001) deutlich zugenommen.
Abbildung 1: Stationäre Aufnahmen und Behandlungstage von Jugendlichen (<18 Jahre).
Die Rehospitalisationen wurden für alle minderjährigen Patienten analysiert, die 2020 mindestens eine stationäre Behandlung abgeschlossen hatten. Diese 254 Patienten waren zu 62,2% weiblich, bei Studieneinschluss M=15.6 Jahre alt (SD = 1.2) und sie hatten bis am 31.12.2021 insgesamt 173 stationäre Rehospitalisationen akkumuliert (zwischen 0 und 9 Wiederaufnahmen pro Patient). Die insgesamt 427 stationären Behandlungen (inkl. Indexbehandlung) dauerten im Durchschnitt M = 25,9 Tage (SD = 21,6, Range = 2-128) und die Hospitalisationen erfolgten zu 36,5% per FU.
Abbildung 2 zeigt die Zeitdauer («Überlebensdauer») bis zu den Rehospitalisationen nach den stationären Austritten in Abhängigkeit vom vorbehandelnden Bereich. Insgesamt war das relative Risiko für eine Rehospitalisation nach einer stationären Behandlung mit Beteiligung der Erwachsenenpsychiatrie um 39.2% höher als nach stationären Aufenthalten, die ausschliesslich im Jugendbereich stattgefunden hatten (HR = 1,392, 95% CI = 1,007–1,922, p = 0,045). Dieses erhöhte Rehospitalisationsrisiko fand sich nachdem mit einem Cox-Regressionsmodell für die Aufenthaltsdauer der vorangegangenen Klinikbehandlung (HR = 1,002, 95% CI 0,996–1,009, p = 0,506) und für FU (HR = 1,149, 95% CI = 0,846–1.561, p = 0,506) kontrolliert worden war, da sich diese beiden Merkmale zwischen den beiden Stichproben statistisch signifikant unterschieden.
Abbildung 2: Überlebensraten bis zur Rehospitalisation nach dem Klinikaustritt (in Abhängigkeit von Behandlungsbereich).

Diskussion

Die gesundheitliche Situation von Jugendlichen hat sich in den letzten zwei Jahren seit Beginn der Pandemie gerade im Hinblick auf das psychische Wohlergehen verschlechtert [3]. Während die Inanspruchnahme von ambulanten und stationären kinder- und jugendpsychiatrischen Angeboten bereits in der letzten Dekade stetig zugenommen hatte, kam es in den letzten zwei Jahren nochmals zu einem deutlichen Anstieg der ambulanten Konsultationen, Kriseninterventionen und der stationären Akutbehandlungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie [5].Übereinstimmend zeigen unsere Daten einen deutlichen Anstieg von stationär aufgenommenen, minderjährigen Jugendlichen in einer psychiatrischen Grundversorgungsklinik seit Beginn der Pandemie. Trotz kompensatorischer Massnahmen (z.B. Ausbau des Home Treatment-Angebots) waren die stationären Kapazitäten der jugendpsychiatrischen Behandlung im Kanton Zürich erschöpft, so dass die Minderjährigen teilweise auf Akutstationen der Erwachsenenpsychiatrie behandelt werden mussten
Aus entwicklungspsychiatrischer Sicht ist dies problematisch, da eine Station der Erwachsenenpsychiatrie nicht den alters- und entwicklungsangemessenen Rahmen bieten kann. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist typischerweise ein milieutherapeutisches Setting mit Klinikschule und altersentsprechenden Therapiebausteinen verwirklicht, um nachhaltige therapeutische Effekte zu erzielen [7, 8]. Dabei ist auch die multidisziplinäre Zusammenarbeit von Kinder- und Jugendpsychiater:innen, Kinder- und Jugendpsycholog:innen, Pflegekräften und Sozialpädagog:innen, Spezialtherapeut:innen und spezialisierten Lehrkräften ein wichtiger Wirkfaktor. Auch wenn unsere Daten keine inhaltlichen Ursachen für die Zusammenhänge zwischen Behandlungen von Jugendlichen auf Erwachsenenstationen und erhöhten Rehospitaliserungsraten aufzeigen lassen, weisen sich doch darauf hin, dass hinreichende Kapazitäten in spezialisierten jugendpsychiatrischen Stationen mit umfassenderem Abklärungsangebot für eine adäquate und nachhaltige Versorgung von Jugendlichen mit psychiatrischen Störungsbildern unabdingbar sind.
Bezüglich Limitationen ist zu berücksichtigen, dass unsere Studie auf routinemässig erhobenen medizinischen Statistikdaten einer einzelnen psychiatrischen Klinik beruht. Entsprechend waren die Informationen limitiert, für die zwischen den ausschliesslich jugendpsychiatrisch und zumindest teilweise erwachsenenpsychiatrisch hospitalisierten Jugendlichen statistisch kontrolliert werden konnte. Zumindest jedoch beruhen unsere Analysen zur stationären Inanspruchnahme auf abrechnungsrelevanten Daten, die zu den zuverlässigsten Angaben in der medizinischen Statistik gehören dürften. Schliesslich entzogen sich auch Rehospitalisationen in anderen Kliniken unserer Kenntnis und entsprechend lassen sich diesbezügliche Verzerrungen unserer Ergebnisse nicht ausschliessen.
Zusammenfassend weist unsere Studie darauf hin, dass Investitionen in jugendspezifische stationäre Versorgungsangebote für eine nachhaltige Behandlungsqualität lohnenswert sind, was dann wiederum zu einer Eindämmung von hohen Folgekosten bei einer inadäquaten Versorgung beitragen kann. Dies sollte bei der psychiatrischen Versorgungsplanung berücksichtigt werden. Als Zwischenlösung und da sich Hospitalisationen in der Erwachsenenpsychiatrie künftig selbst bei Kapazitätserweiterungen in der Jugendpsychiatrie nicht ausschliessen lassen, kann auch ein Auf- oder Ausbau vom Home Treatment-Angeboten, von interprofessionellen Konsiliardiensten und von aufsuchender Beschulung hilfreich sein. Allerdings können auch diese Angebote eine altersentsprechende stationäre Behandlung nicht bei allen Jugendlichen, beziehungsweise nicht in allen Krankheitsphasen, vollständig ersetzen.
Dr. med. Stephan Kupferschmid
Integrierte Psychiatrie Winterthur – Zürcher Unterland
Dr. med. Stephan Kupferschmid
Integrierte Psychiatrie Winterthur –
Zürcher Unterland
Wieshofstrasse 102
CH-8408 Winterthur
stephan.kupferschmid[at]ipw.ch
1 Ravens-Sieberer U, Kaman A, Erhart M, Otto C, Devine J, Löffler C et al. Quality of life and mental health in children and adolescents during the first year of the COVID-19 pandemic: results of a two-wave nationwide population-based study. Eur Child Adolesc Psychiatry. 2021;12:1–14.
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7 Steinhausen H-C. Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen: Lehrbuch der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. 2. Auflage. München: Urban & Fischer; 2019.
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