Es ist reiner Zufall, dass Anton Hüglis «philosophische Meditation» über Karl Jaspers‘ Begriff der «Grenzsituation» zu einem Zeitpunkt erscheint, an dem jeder und jede Einzelne von uns durch die COVID-19-Pandemie erfährt, wie dünn das Eis sein kann, auf dem wir stehen [
1]. Dieser Kontext mag es leichter machen, meine Empfehlung zu begründen, sich auf diesen komplexen und fordernden Text einzulassen – ein Text zudem, der sich (von einer Fussnote abgesehen) jeder direkten Bezugnahme auf das psychiatrisch-psychotherapeutische Feld enthält. Sehr wohl aber gibt es eine Fülle von indirekten Bezügen: Wer, so ist aus psychiatrischer Sicht vor allem zu fragen, hat denn nahezu regelhaft intensive und oft leidvolle Berührungen mit Grenzsituationen unterschiedlichen Gepräges, wenn nicht unsere Patientinnen und Patienten in ihrem Betroffensein von Psychosen, affektiven Erkrankungen, Persönlichkeitsstörungen oder Abhängigkeitserkrankungen? Um einem Missverständnis vorzubeugen: Grenzsituationen gehören aus Jaspers‘ Sicht zur Existenz eines jeden Menschen, völlig unabhängig vom Vorhandensein oder Fehlen einer wie auch immer gearteten Krankheit. Was ich sagen will, ist, dass psychisch erkrankte Menschen wohl nicht nur häufiger, sondern auch qualitativ anders, abrupter und möglicherweise radikaler mit Grenzsituationen konfrontiert werden als viele Gesunde.