Von der philosophischen Abstraktion zur täglichen psychiatrisch-psychotherapeutischen Arbeit

Von der philosophischen Abstraktion zur täglichen psychiatrisch-psychotherapeutischen Arbeit

Editorial
Issue
2020/02
DOI:
https://doi.org/10.4414/sanp.2020.03099
Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2020;171:w03099

Affiliations
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Psychiatrische Universitätsklinik, Zürich, Schweiz

Published on 31.03.2020

Kommentar zu Anton Hügli: «Grenzsituationen erfahren und existieren ist dasselbe» –eine philosophische Meditation über einen Satz von Karl Jaspers.

Es ist reiner Zufall, dass Anton Hüglis «philosophische Meditation» über Karl Jaspers‘ Begriff der «Grenzsituation» zu einem Zeitpunkt erscheint, an dem jeder und jede Einzelne von uns durch die COVID-19-Pandemie erfährt, wie dünn das Eis sein kann, auf dem wir stehen [1]. Dieser Kontext mag es leichter machen, meine Empfehlung zu begründen, sich auf diesen komplexen und fordernden Text einzulassen – ein Text zudem, der sich (von einer Fussnote abgesehen) jeder direkten Bezugnahme auf das psychiatrisch-psychotherapeutische Feld enthält. Sehr wohl aber gibt es eine Fülle von indirekten Bezügen: Wer, so ist aus psychiatrischer Sicht vor allem zu fragen, hat denn nahezu regelhaft intensive und oft leidvolle Berührungen mit Grenzsituationen unterschiedlichen Gepräges, wenn nicht unsere Patientinnen und Patienten in ihrem Betroffensein von Psychosen, affektiven Erkrankungen, Persönlichkeitsstörungen oder Abhängigkeitserkrankungen? Um einem Missverständnis vorzubeugen: Grenzsituationen gehören aus Jaspers‘ Sicht zur Existenz eines jeden Menschen, völlig unabhängig vom Vorhandensein oder Fehlen einer wie auch immer gearteten Krankheit. Was ich sagen will, ist, dass psychisch erkrankte Menschen wohl nicht nur häufiger, sondern auch qualitativ anders, abrupter und möglicherweise radikaler mit Grenzsituationen konfrontiert werden als viele Gesunde.
Der Autor nennt seinen Beitrag bewusst (und zu Recht) eine Meditation: Zwar gibt er eine thematische Einführung in die verschiedenen Situationsbegriffe bei Karl Jaspers und begründet, warum dieser Kontext vor allem ‒ aber nicht nur ‒ für dessen Spätwerk so zentral ist. Hüglis Hauptanliegen jedoch ist, die Leserin und den Leser persönlich anzuregen, das Thema für sich selbst weiter zu denken, sich zu ihm zu verhalten.
Jaspers‘ These, der Hügli beipflichtet und auf die es ihm besonders ankommt, ist sehr stark: Wir schöpfen unsere Möglichkeiten als personale, i.e. Verantwortung tragende handelnde Wesen nur dann voll aus, wenn wir die der «conditio humana» eigenen Grundsituationen (etwa geboren werden, sterben, leiden, kämpfen, schuldig werden) nicht nur, gleichsam technisch, als solche erkennen, sondern sie auch als uns persönlich angehende Grenzsituationen verstehen, in denen wir uns jeweils neu zu positionieren haben. Tut eine Person dies nicht, «versteckt» sie sich vor diesen Fragen und bleibt an der Oberfläche der sich endlos aneinander reihenden Alltagssituationen. Dann mag sie, so Jaspers‘ (und Hüglis) dezidiertes Votum, zwar halbwegs funktionieren, aber – notabene: im spezifischen Sinne seiner Philosophie – nicht existieren. Ergo, verdichtet und in Jaspers‘ Worten: «Grenzsituationen erfahren und existieren ist dasselbe».
Nun darf dieses eigene Positionieren aber auf keinen Fall gleichgesetzt werden mit einer Auflösung der gestellten Frage, mit einer Abschaffung des Problems. So einfach ist es eben nie im Falle von Grenzsituationen. Jaspers selbst hat diesen für die ganze Argumentation zentralen Aspekt an einem ihn persönlich prägenden Konflikt illustriert, am Erleben und Verhalten der in einer unmenschlichen Diktatur lebenden Person [2]: Lehnt sie sich aktiv auf, verliert sie allenfalls ihr Leben und kann dann gar nichts mehr bewirken; tut sie ohne offenen Protest alles, was sie kann, um einzelne Lebensbedingungen oder gesellschaftliche Verhältnisse zu verbessern, kann sie sehr wohl manches bewirken, aber eben im Rahmen des Systems, gar als dessen Teil. Auf eine bestimmte Art «schuldig» wird sie in beiden Fällen; auch diese Grenzsituation (wie alle anderen) hat eben keine «Auflösung», bietet keinen «easy way out». Als Personen sind wir gefordert, Grenzsituationen auszuhalten, aber auch zu gestalten – ohne zu resignieren.
Hügli vertritt eine dezidiert existenzphilosophische Einbettung des Bewusstseinsbegriffs. Er bleibt damit in voller Absicht einen Schritt zurück hinter der klassischen transzendentalphilosophischen Lesart, wie wir sie bei Immanuel Kant und Johann Gottlieb Fichte finden, deren Verständnis von Bewusstsein dem handelnden Subjekt einen deutlich grösseren, in einem bestimmten Sinne optimistischeren Aktionsradius zugesteht. Dadurch erhält Hüglis Text, vom Autor fraglos so gewollt, über lange Strecken eine ebenso elegante wie markante melancholische Tönung.
Was aber, so darf man fragen, hat das mit unserer täglichen psychiatrisch-psychotherapeutischen Arbeit zu tun? Meine Antwort lautet: So, wie Karl Jaspers als Person (einschliesslich seiner Biographie) die Psychiatrie mit der Philosophie verbindet, so vermag sein Begriff der Grenzsituation eine tragfähige, wenn auch nicht auf den ersten Blick sichtbare Brücke zu bauen zwischen der philosophischen Abstraktion einerseits und dem konkreten Erleben und Leiden von psychisch erkrankten Menschen andererseits.
Ich lese den Text daher auch als eine existenzphilosophische Annäherung an die Psychiatrie, wobei hier zwei unterschiedliche, aber miteinander verschränkte Ebenen ins Spiel kommen, nämlich diejenige der betroffenen Person selbst, die durch die psychische Erkrankung mit Grenzsituationen konfrontiert wird, und diejenige des Selbstverständnisses unseres Faches: Wo sehen wir den Gegenstandsbereich der Psychiatrie als diagnostisches, therapeutisches und forschendes Fach? Konkreter: Wie können wir dem vielzitierten, aber zunehmend unterdefinierten bio-psycho-sozialen Modell psychischer Erkrankungen im 21. Jahrhundert auf eine Weise Gewicht und Substanz verleihen, dass dort auch der Diskurs über die «conditio humana» und damit über die Jasperssche «Grenzsituation» seinen Platz findet?
Anton Hüglis nachfolgende «philosophische Meditation» wird, sofern man sich auf sie einlässt, ihren Teil zur Bearbeitung dieser Fragen beitragen können.
Prof. Dr. med. Dr. phil. Paul Hoff, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie, und Psychosomatik, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Lenggstrasse 31, Postfach 1931, CH-8032 Zürich, paul.hoff[at]puk.zh.ch
1 Hügli A. «Grenzsituationen erfahren und existieren ist dasselbe» – eine philosophische Meditation über einen Satz von Karl Jaspers. Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2020;171:w03092.
2 Jaspers K. Die Schuldfrage. Heidelberg: Schneider; 1946.