Historische Aufarbeitung der klinischen Versuche in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen

Historische Aufarbeitung der klinischen Versuche in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen

Interview
Issue
2019/06
DOI:
https://doi.org/10.4414/sanp.2019.03077
Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2019;170:w03077

Published on 11.12.2019

Ein Stück Schweizer Psychiatriegeschichte wurde geschrieben, als eine Historikergruppe die Versuche von Münsterlingen aufarbeitete und kürzlich veröffentlichte. Frau Professor Marietta Meier, die Leiterin dieses Projekts, wird befragt über die Bedeutung der vorliegenden Arbeit.

Karl Studer:Sie haben im Auftrag des Regierungsrates des Kantons Thurgau die Historikergruppe zur Aufarbeitung der klinischen psychopharmakologischen Versuche von ca. 1940 bis 1990 in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen geleitet und das vorliegende Werk [1] erarbeitet. Sie haben damit ein Stück Schweizer Psychiatriegeschichte, wohl auch Psychopharmakologie-Geschichte und damit Kulturgeschichte im Rahmen einer Umbruchphase in der Psychiatrie geschrieben. Was hat Sie bei dieser Arbeit besonders beeindruckt?
Marietta Meier: Die riesigen Dimensionen der klinischen Versuche in Münsterlingen waren und sind beeindruckend. Das gilt für die Zahl der geprüften Substanzen, die Zahl der betroffenen Patientinnen und Patienten sowie für die Zahl der verabreichten Einzeldosen. An den Versuchen in Münsterlingen war ein breites Netz von Akteuren beteiligt, das von Pharmafirmen, anderen Kliniken und privat praktizierenden Ärzten über Patienten, deren Angehörige, Nachbarn und Arbeitgeber bis zu den Behörden reichte.
KS:Roland Kuhn wehrte sich immer gegen die Prinzipien der Deklaration von Helsinki, gegen die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften und gegen die zunehmenden Neuerungen bei den Medikamentenprüfungen mit Statistiken und Doppelblindstudien. Er traute nur seinen eigenen Beobachtungen und Interpretationen der Symptomatologie. Auch die Information und Einverständniserklärung der Patienten waren ihm hinderlich bei den Beobachtungen, da sie die Resultate verfälschten. Wie können Sie dies aus den Akten verstehen?
MM: Kuhns Prüfmethodik bestand aus seinem beobachtenden Blick als Versuchsleiter (einem explorativen Vorgehen, in dem keine im Voraus festgelegten Indikationen überprüft wurden, sondern offen und oft über mehrere Diagnosekategorien hinweg Stoffwirkungen gesucht wurden), einer langen Versuchsdauer, Stoffkombinationen, wechselnden Dosierungen sowie der Ablehnung von Placebos, von statistischer Auswertung oder der Verwendung von Kontrollsubstanzen. Wir haben für unsere Studie eine Vielzahl von Archiven, Beständen und Quellensorten berücksichtigt: neben Kuhns Nachlass auch Kranken- und andere Akten der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen, Archive der pharmazeutischen Industrie, der Interkantonalen Kontrollstelle für Heilmittel (heute Swissmedic), Gespräche mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie Fachpublikationen und Medienberichte. Um Kuhns Haltung zu den erwähnten Neuerungen zu analysieren, war vor allem seine Korrespondenz aufschlussreich, weil er in Briefen an Fachkollegen und die Pharmaindustrie diesbezüglich klar und deutlich Stellung bezog. Dabei reklamierte Kuhn einen ganzheitlichen Blick für sich, der die Patienten nicht auf Zahlen, Kurven und Statistik reduziere, sondern den gesamten Menschen erfasse. Sein Erfolg mit Tofranil® bestärkte ihn darin, zeitlebens an dieser Methodik festzuhalten.
Die seit den 1970er-Jahren lauter gewordenen Forderungen nach einer informierten Zustimmung der Patienten betrachtete Kuhn offenbar eher als Hindernis. Er fand, sie beeinflusse die Auswahl der Probanden zu stark: Für eine Einwilligung müssten Patienten verstehen, was man ihnen vorschlage, und diesem Vorschlag zustimmen können. Der Einwilligungsprozess verfälsche zudem die Resultate einer Prüfung, weil er Erwartungen, Hoffnungen und Ängste wecke.
KS:Was im Buch wenig zur Sprache kommt, ist die effektive antidepressive Wirkung dieser Prüfungen. Wie könnte dies ergänzt werden?
MM: Welche Antidepressiva unter welchen Umständen eine eindeutige Wirkung zeigen, ist Gegenstand klinischer Studien und teilweise heftiger Debatten. Als Historikerin kann und will ich nicht beurteilen, ob Antidepressiva «wirklich» wirken. Stattdessen untersuche ich, wie es dazu gekommen ist, dass einer Substanz eine bestimmte Wirkung zugeschrieben wird. Aus wissenschaftshistorischer Perspektive zeigt nämlich ein chemischer Stoff seine Wirksamkeit nicht von selbst. Ein Medikament entsteht nur, wenn dessen Wirkungen festgestellt, beurteilt und festgeschrieben werden. Im Zuge von Stoffprüfungen wird abgewogen, ausgehandelt und ausgemustert. An diesem vielschichtigen Prozess sind neben chemischen Stoffen viele weitere Akteure beteiligt. Klinische Forschung, gerade in der Psychiatrie, erfolgt deshalb in einem Spannungsfeld – zwischen wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, ethischen und therapeutischen Interessen, zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Recht, Richtlinien, Sicherheitsbedürfnis und der Tatsache, dass klinische Versuche stets mit Restrisiken verbunden sind. Mit anderen Worten: Probandenversuche sind ambivalent und werfen ethische Fragen auf, die jedoch in den Hintergrund geraten, sobald aus chemischen Substanzen zugelassene Produkte werden.
KS:Wäre es nicht auch interessant die Geschichte der Entwicklung der Psychopharmaka aus der Sicht der Pharmafirmen zu studieren? Was bräuchte es dazu?
MM: Das wäre bestimmt interessant. Um die Perspektive der Pharmafirmen stärker einzubeziehen, müssten andere Quellen analysiert werden. Wir sind in unserer Studie von der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen und Roland Kuhn ausgegangen und haben deshalb in den Archiven der Pharmafirmen und im Archiv von Swissmedic nur ganz bestimmte Quellen eingesehen bzw. einsehen dürfen. Ein Forschungsprojekt zur Entwicklung der Psychopharmaka, das die Pharmaindustrie ins Zentrum stellt, müsste von anderen Fragen und anderen Quellen ausgehen.
KS:Sie hatten eine in der Schweiz wohl einzigartige Quellenlage zur Verfügung, da Roland Kuhn akribisch Informationen sammelte und sie nun im Staatsarchiv zur Verfügung stehen. Sie erwähnen am Schluss die Idee, weitere Abklärungen damit zu machen im Sinne einer Darstellung eines grossflächigen Bildes der Nachkriegszeit, der biographischen «Wanderung» der Patienten, der Stichproben und Auswertung der klinischen Akten in Bezug auf die Krankheitsverläufe und des Vergleiches mit anderen Psychiatrischen Institutionen etc. Haben Sie weitere Pläne oder Aufträge von anderen Kantonen z.B. von Universitätskliniken, wo ja Forschung im Vordergrund steht?
MM: Nein, zurzeit nicht. «Testfall Münsterlingen» zeigt, dass an zahlreichen Orten und Institutionen der Schweiz klinische Versuche mit potenziellen Psychopharmaka durchgeführt wurden, nicht nur in Universitätskliniken und anderen staatlichen psychiatrischen Kliniken, sondern auch in Privatkliniken, Heimen, Anstalten und Privatpraxen. Wie wir bereits im Buch und auch gegenüber den Medien betont haben, scheint es uns daher wichtig, weitere Forschung zu betreiben, diese aber auf nationaler oder sogar internationaler Ebene anzusiedeln.
KS:Wie war das Echo auf Ihre Publikation? Regte es zum Weiterdenken und zur Diskussion an?
MM: Das Medienecho auf unser Buch war sehr positiv, aber leider etwas kurzlebig. Das Thema «Klinische Prüfungen» ist sehr komplex, weil hier medizinische, pharmakologische, wirtschaftliche und ethische Fragen zusammenkommen. Umso problematischer ist Schwarzweiss-Malen. Viel gewinnbringender ist es, Nuancen und Schattierungen herauszuarbeiten und zu diskutieren. Aus unserer Sicht wäre es deshalb wichtig, dass sich Politik und Öffentlichkeit weiter mit dem Thema auseinandersetzen würden. Die ethischen Fragen, die sich bei klinischen Versuchen stellen, sollten nicht nur in Gremien verhandelt werden.
KS:Was möchten Sie den Lesern des SANP zu diesem Thema noch gerne sagen?
MM: Historikerinnen und Historiker problematisieren die Vorstellung einer linearen Vorwärtsbewegung, die davon ausgeht, dass unsere Gesellschaft, die Medizin und die Psychiatrie im Laufe der Zeit Fortschritte machen. Das bedeutet, dass wir die Vergangenheit nicht an heutigen Massstäben messen sollten. Gleichzeitig sollten wir uns aber auch bewusst sein, dass unsere gegenwärtigen Vorstellungen von dem, was man im medizinisch-psychiatrischen Bereich für angebracht und zulässig hält, ebenfalls zeit- und kulturspezifisch sind.
Dr. Karl Studer, Praxis im Klosterhof, Klosterhofstrasse 1, CH-8280 Kreuzlingen, Karl.studer[at]bluemail.ch
1 Meier M, König M, Tornay M. Testfall Münsterlingen. Klinische Versuche in der Psychiatrie, 1940-1980. Zürich: Chronos, 2019.